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All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman

Titel: All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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sich auf den Boden plumpsen.
    Harry musterte ihn kopfschüttelnd und steckte sich wieder eine Zigarre an. Ein winziges Flämmchen züngelte hoch, als er das goldene Feuerzeug daran hielt. »Sie haben doch bestimmt Edgar Allan Poe gelesen. Kennen Sie ›Die schwarze Katze‹?« Er wartete die Antwort gar nicht ab. »Interessante Erzählung, und ziemlich makaber, aber es ist ja schließlich Poe. Der Erzähler hat eine schwarze Katze. Sie sind unzertrennlich. Die Katze folgt ihm auf Schritt und Tritt. Der Bursche fängt an zu trinken und legt schon bald diese typische Alkoholikermentalität an den Tag. Er tut der Katze etwas Schreckliches an, am Ende henkt er das Tier. Die Geschichte ist ganz schön grausig.«
    »Warum tut er das?«
    »Der Erzähler stellt sich vor, man tut Dinge einfach, weil sie pervers sind. Aus keinem anderen Motiv.«
    Jury fiel das Gespräch wieder ein, das er gerade mit Jenkins geführt hatte. Vertigo .
    Harry fuhr fort: »Ich glaube, es hat mit der kranken Psyche des Mannes zu tun. Perversion als Selbstzweck. Interessant. Die schwarze Katze kommt natürlich zurück, um ihn auf besonders bösartige Weise zu quälen. Das Einzige, was ich an Poe nicht mag, ist die Vergeltung, die Strafe. Immer geht es um Vergeltung und Strafe. Ich finde das nicht überzeugend.« Er überlegte.
»Die Kleine im Pub, die hat sich das mit der entführten Katze ja vielleicht bloß ausgedacht.«
    Mungo war aufgesprungen und drehte sich wieder wild im Kreis.
    »Die Geschichte ist einfach zu seltsam«, fuhr Harry fort. »Wieso sollte jemand eine Katze entführen? Das ist doch absurd. Wie die andere.«
    Jury sah ihm direkt ins Gesicht. »Ach, Sie meinen die, die Sie mir erzählt haben, in der Mungo verschwindet und wie durch ein Wunder wieder auftaucht? Die Geschichte, die Sie mir bei Drinks und Dinner aufgetischt haben und die ich Idiot auch noch geglaubt habe? Die Geschichte?«
    Harry blies wieder einen Rauchkringel und sagte: »Regen Sie sich doch ab! Auf Ihrem Grabstein wird bestimmt noch mal stehen: ›Der Hund kam wieder zurück.‹«
    Unten auf dem Boden sah Mungo aus, als hielte er sich buchstäblich mit der Pfote die Augen zu.
    Jury schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das kommt auf Ihren Grabstein, Harry. Ich werde es selbst einmeißeln.«
    Harry seufzte. »Sie lassen einfach nicht locker, was? Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, Ihr Erinnerungsvermögen könnte genauso fehlerhaft sein? Wie das dieses Kindes? Diese unglaubliche Geschichte ist womöglich gar nie passiert.«
    Jury sah zu, wie Harry Johnson sein Weinglas in den Streifen Licht hielt, den die Hängelampe über ihren Köpfen warf. »Sie haben derart viele Geschichten auf Lager, dass schwer zu sagen ist, auf welche Sie sich beziehen – auf welche Geschichte und auf welche ihrer zahlreichen Ausformungen. Wenn Sie von der Tilda-Version reden, meinen Sie doch wohl nicht die Binsenwahrheit: Die Erinnerung des Zeugen ist immer fehlerhaft.«
    Harry drehte das Glas wie die Prismen eines Diamanten. »Warum nicht? Ist bei Proust auch so.«
    »Bitte nicht! Erst Poe und jetzt auch noch Proust?« Jury nahm einen kräftigen Schluck Wein.

    Harry stellte sein Glas hin und wandte sich ihm mit leicht ironischem Lächeln zu. »Sie haben ihn gelesen, nicht?«
    »Natürlich, so wie die meisten Leute. In Swanns Welt . Auf Seite dreißig etwa habe ich aufgehört, da, wo er den Kuchen in den Tee stippt.«
    »Das war ein Stückchen Madeleine auf einem Löffel, in Tee gestippt. Und aus diesem Geschmack erblühte ihm im Kopf eine ganze Welt. Das ist alles, was Sie gelesen haben? Schade. Wenigstens Die wiedergefundene Zeit sollten Sie lesen. Auf der Basis von dreißig Seiten lässt sich das Buch doch kaum begreifen. Zwischendurch gibt es immer wieder Episoden wie die mit der Madeleine. Einmal ist er in einem festlichen Salon bei einem Klavierkonzert und hört eine Phrase – nur das, zwei Noten -, und erlebt etwas ganz Ähnliches. Die ›kleine Phrase‹ nannte er es. In Die wiedergefundene Zeit will er gerade das Haus der Guermantes betreten, als er mit dem Zeh an einen Stein auf dem Fußweg stößt, und auch das ruft eine Erinnerung wach. Als er drinnen einen Platz zugewiesen bekommt und wartet, ist der nächste Auslöser eine gestärkte Serviette. Es ist faszinierend.«
    »Das ist aber doch das genaue Gegenteil von dem, was Sie sagen – dass Erinnerung fehlerhaft sein kann. Proust spricht von verlorener Erinnerung, nicht von gefälschter, frei erfundener

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