Alle auf Anfang - Roman
und schon eingeschlafen ist, sagt er nichts mehr außer »Gute Nacht.« Fast immer schläft Claudia als Erste ein. Oft schlummert sie schon, wenn er das Schlafzimmer betritt. Er versucht dann, möglichst leise zu sein, aber von gelegentlichen Ausrutschern wie einem versehentlich vom Nachttisch herabgestoßenen Buch weiß er, dass sie auch dann nicht aufwacht, wenn er nicht so leise ist. Vielleicht wird das jetzt anders, vielleicht ist sie jetzt hellhöriger. Empfindlicher. Er will das nicht. Etwas wird anders werden, und er muss das akzeptieren. Obwohl er nichts getan hat.
Die Schwester kommt herein, wirft einen Blick auf den Monitor und nickt Urs zu. Aufmunternd, wie er findet. Er muss jetzt etwas sagen. Das wird von ihm erwartet. »Liebes«, sagt er. Das sagt er sonst nie. Das falsche Wort schwebt hinüber zum Monitor und friert sofort fest am Bildschirm. Dass die Schwester den Raum schon verlassen hat, ist ihm gar nicht aufgefallen.
Urs saß mit Claudia am Tisch
Der Reisekatalog lag aufgeschlagen zwischen der Butterdose und dem Käseteller. Er schabte mit dem Messer eine Butterflocke aus der Dose und strich das Fett gleichmäßig über das Brot.
»Türkei, meinst du also?«
»Eben nicht.«
Ihre Stimme klang leicht genervt. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört. Türkei war letztes Jahr. Kroatien.«
Sie betonte die vier Silben des Ländernamens mit Nachdruck. Er kam sich ertappt vor.
»Mein ich ja. Bis wann müssen wir buchen?«
Er legte eine Scheibe Bierschinken auf sein Brot und biss hinein. Sie legte den Finger auf die Infospalte, die sie eben schon einmal vorgelesen hatte. »Wenn wir den Frühbucherrabatt wollen, bis Anfang März.«
»Nächste Woche also.«
Er hasste es, rasche Entscheidungen treffen zu müssen. Sie wusste das.
»Die Anlage ist ähnlich ausgestattet wie die letztes Jahr in der Türkei«, sagte sie und sah ihn an, »mit Kinderbetreuung.«
Er nickte.
»Für alle Fälle«, sagte sie und sah zur Treppe. Die Kleine schlief schon, sie hatte vor ihnen gegessen, er war heute spät aus dem Büro gekommen.
Eine Weile lang schwiegen sie. Er schmierte sich ein Brot, sie legte ihr Messer quer über den Teller zum Zeichen dafür, dass sie fertig war. Mit müden Augen betrachtete sie die Fotos auf der aufgeschlagenen Seite im Reiseprospekt. Er fand das Blau der Bilder künstlich.
»Sieht genauso aus wie letztes Jahr.«
»Wir können auch hierbleiben«, sagte sie scharf, »wir müssen nicht weg.«
Er schob sich den letzten Bissen in den Mund, dann legte er auch sein Messer quer über den Teller.
»Warum mieten wir nicht einfach mal ein Wohnmobil und fahren los? Nach Norwegen oder Finnland. Ins Blaue.«
Natürlich ging das nicht, das wusste er auch. Die Kleine. Und außerdem war es zu teuer. Er zog den Kopf ein und sah sie von unten her an. Sie hatte die Augen geschlossen.
»Ach, Urs«, sagte sie leise.
Er hätte beinahe geweint. Stattdessen zog er den Prospekt heran, blätterte ans Ende und tat, als lese er das Kleingedruckte. Er wusste, dass sie eigentlich gerne auf den Spuren alter Kulturen reisen würde. Das können wir immer noch machen, hatten sie einander oft beschworen. Wenn die Kleine groß ist. Wenn mehr Geld da ist.
Aus der Brusttasche seines Hemdes zog er einen Kugelschreiber und begann, das Buchungsformular auszufüllen.
»All inclusive?«, fragte er über das Blatt hinweg.
Sie nickte. Sah zu, wie er schrieb. Stand auf, begann, den Tisch abzuräumen. Von der Spülmaschine her, während sie die Teller im Korb aufreihte, fragte sie über die Schulter hinweg: »Was kostet das, so ein Wohnmobil mieten?«
Überrascht blickte er von dem Formular hoch. »Keine Ahnung. Müsste man sich mal erkundigen.«
Sie klappte die Spülmaschinentür zu und lehnte sich dagegen.
»Mitternachtssonne. Weißt du noch?«
Er nickte. Er hatte ihr mal ein Buch vorgelesen, früher, sie waren noch nicht verheiratet, und die Mitternachtssonne war das Höchste für den Autor des Buches. Jede Seite war in ihr Licht getaucht.
Ein Schrei ließ sie beide zusammenzucken. Er kam von oben, aus dem Zimmer der Kleinen. Claudia drehte sich um und lief hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Urs fror ein in seiner Haltung, er konzentrierte sich darauf, etwas zu hören. Doch oben war alles wieder still. Nach einer Weile kam Claudia zurück.
»Und?«, fragte er.
»Nichts. Hat wohl geträumt.«
Sie setzte sich wieder zu ihm an den Tisch und sah zu, wie er das Buchungsformular am perforierten Rand aus dem
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