Alle Familien sind verkorkst
zum Fenster hinaus. Ihre Lippen waren so wund, dass das Sprechen schmerzte, und das Ausatmen tat ihr weh. Ihr Tablettentimer summte; sie setzte sich auf. Sie griff in ihre Handtasche und holte ein Pillenfläschchen heraus. Dann stellte sie den Fernseher an und landete auf CNN, wo Sarah gerade ein Interview gab. Wie immer sah ihre Tochter im Fernsehen strahlend schön aus, wie eine Nonne, die nie Make-up angerührt hatte.
- Glauben Sie, dass Sie und andere Kinder wie Sie, die mit einer durch Contergan verursachten Behinderung geboren wurden, der Welt auch noch etwas anderes zu sagen haben?
- Natürlich. Wir waren die Kanarienvögel im Bergwerk. Wir kamen als die ersten Kinder zur Welt, an denen bewiesen wurde, dass Chemikalien aus der Umwelt - in unserem Fall Contergan - den menschlichen Embryo schwer schädigen können. Heutzutage rauchen und trinken die meisten Mütter während der Schwangerschaft nicht. Sie wissen, dass die Außenwelt in ihre Babys eindringen und Schäden verursachen kann. Doch der Generation meiner Mutter war das unbekannt. Die Frauen damals hatten keine Hemmungen zu rauchen, zu trinken und haufenweise Medikamente zu nehmen. Heute sind wir schlauer, und unsere Spezies hat dazugelernt wir wissen, dass es teratogene Stoffe gibt.
- Teratogene Stoffe?
- Ja. Teratogen heißt »Ungeheuer bildend«.
Ein schreckliches Wort, aber schließlich ist die Welt auch manchmal ein schrecklicher Ort. Es sind die Chemikalien, die die Plazenta durchwandern und das Wachstum eines Kindes in utero beeinträchtigen.
Der Moderator wandte sich der Kamera zu: »Zeit für eine kurze Pause. Ich spreche mit Sarah Drummond-Fournier, einer einhändigen Frau mit ungeheurem Kampfgeist, die am Freitag beim Start des Space-Shuttle an Bord sein wird. Wir sind gleich wieder da.«
Wie um alles in der Welt konnte ich so ein Kind zur Welt bringen? Ich verstehe nichts von ihrem Leben. Nichts. Und dabei ist sie mir wie aus dem Gesicht geschnitten, und jetzt gondelt sie auch noch in den Weltraum hinauf. Janet erinnerte sich, wie gern sie der kleinen Sarah immer bei den Hausaufgaben helfen wollte, und wie diese sie höflich, aber resigniert dazu ermuntert hatte, wenn sie den Kopf zu Sarahs Tür hineinsteckte. Unweigerlich stellte Janet dann beim ersten Blick auf Sarahs Schulheft fest, dass die Aufgaben das reinste Chinesisch für sie waren. Daraufhin pflegte sie ein paar besorgte Fragen nach Sarahs Lehrern zu stellen, um dann Küchenpflichten vorzuschützen und sich hastig zurückzuziehen.
Sie schaltete den Fernseher aus.
Früher hatte sie sich alles zu Herzen genommen, und wenn sie keine echte Anteilnahme aufbringen konnte, fiel es ihr nicht schwer, welche vorzutäuschen: zu viel Regen, der die Petunien verkümmern ließ, die Schrammen ihrer Sprösslinge, Biafra-Kinder, das Elend der Meeressäuger. Sie betrachtete sich als eines der überlebenden Mitglieder einer verlorenen Generation, der letzten Generation, die dazu erzogen wurde, nicht die Augen zu verschließen und sich zu bemühen, das Richtige zu tun - oder überhaupt etwas zu tun. Sie war 1934 in Toronto geboren, einer Stadt, die damals Chicago, Rochester oder Detroit ziemlich ähnlich war - nichtssagend, durchkonzipiert, sparsam, den Spielregeln gehorchend. Ihr Vater, William Truro, war Geschäftsführer der Möbel- und Küchengeräteabteilung des Kaufhauses Eaton's im Stadtzentrum. Williams Frau, Kaye, war, nun ja ... Williams Frau.
Die beiden zogen Janet und ihren älteren Bruder Gerald mit 29 Dollar 50 pro Woche groß, bis 1938 eine Gehaltskürzung Williams Einkommen auf 27 Dollar die Woche senkte und Marmelade vom Frühstückstisch der Truros verschwand. Dieser Verlust wurde Janets erste Erinnerung. Danach war ihr der Rest ihres Lebens als steter Schwund erschienen - Dinge, die einmal unentbehrlich gewesen waren, verschwanden ohne jede Diskussion oder, noch schlimmer, unter allzu vielen Diskussionen.
Die Jahreszeiten wechselten. Pullover verschlissen, wurden geflickt, verschlissen erneut und wurden widerstrebend weggeworfen. Ein paar Blumen wuchsen auf dem schmalen Streifen Erde vor dem Backsteinreihenhaus, Arten, die Kaye wegen ihrer Eignung als Trockenblumen aufgetrieben hatte, wodurch sie noch ein paar Monate länger von Nutzen waren. Das Leben schien sich ausschließlich ums Haushalten zu drehen. Im Herbst 1938 starb Gerald an Kinderlähmung. 1939 begann der Krieg, an dem Kanada von Anfang an teilnahm, und es wurde noch fieberhafter gespart: Bratfett, Blechdosen,
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