Alle Menschen werden Schwestern

nicht Arthur und Ludwig, sondern zu Arthur und Ludwig gehört noch je eine vaporisierte Ehefrau. Und wenn Arthur und Ludwig vor diesen sterben, werden die Ehefrauen »Witwe Arthur Lipponer« bzw. »Witwe Ludwig Lauer« genannt werden, ähnlich wie im angelsächsischen Sprachraum bereits die Ehefrauen »Mrs. Arthur Lipponer« o. ä. sind. Auf dem Friedhof verschwinden sie auf Nimmerwiederfinden unter dem Grabstein »Familie Arthur Lipponer« bzw. »Familie Ludwig Lauer«.
    Ganz konkret vaporisiert sind für mich all diejenigen weiblichen Bekannten, von deren Eheschließung plus Namensänderung ich nichts erfahren habe und die ich unter ihrem alten Namen anrufen möchte — der im Telefonbuch gelöscht ist. Ein männlicher Bekannter wird niemals in dieser Weise unauffindbar für mich sein, es sei denn, er legt sich »exzentrischerweise« den Namen seiner Ehefrau zu.
    Ich möchte noch einmal auf den Anfang meines Vortrags zurückkommen. Die einsame Frau auf dem Expertenpodium hieß »Frau Brüttelmann«, von den Herren aber hieß niemand »Herr Brüttelfrau« o. ä. Viele unserer deutschen Nachnamen enden auf - mann, und viele männliche Vornamen und männliche Berufsbezeichnungen können als Nachnamen fungieren, z. B. Frau Otto, Frau Walter, Frau Fritz, Frau Gerhard, Frau Heinrich, Frau Schumacher, Frau Schneider, Frau Bäcker oder Frau Kürschner. Von einem Herrn Angelika, Herrn Monika, Herrn Annegret, Herrn Hebamme oder Herrn Krankenschwester dagegen habe ich nie gehört. Frauen heißen Jensen, Hansen, Jakobson oder Friedrichsen, als seien sie Söhne eines Jens, Hans, Jakob oder Friedrich und als hätten sie keine Mütter. Kein Mann aber heißt Annatochter o. ä.
    Und wenn diese flankierenden Maßnahmen zur Vaporisierung der Frau noch immer nicht ausreichen (Frauen sind ja ein zähes und langlebiges Geschlecht, langlebiger bekanntlich als Männer), so besorgt die männliche Geschichtsschreibung den Rest. Auch auf diesem Gebiet arbeitet die »ganz gewöhnliche« patriarchalische Institution Geschichtswissenschaft bereits effektiver als alle Greuelinstitutionen, die ein Orwell sich ausdenken konnte. Im Wahrheitsministerium muß die Geschichte Tag für Tag nach den Anweisungen der Partei mühsam auf den jeweils genehmen Stand gebracht werden. Im Patriarchat genügt die Vaporisierung der Frauen zu Lebzeiten, ihrer Aktivitäten wie ihres Martyriums, um für alle Zukunft die Quellen und Archive vom Störfaktor Frau freizuhalten. Ähnlich, wie für Winston seine Kindheit in undurchdringlichem Nebel verborgen liegt, weil das Wahrheitsministerium jene Zeit x-mal um- und umgeschrieben hat, hatten auch wir bis zum Wiederbeginn der Frauenforschung Anfang der siebziger Jahre fast keine Erinnerung an unsere Geschichte, z.B. an die Hexenverbrennung [der Höhepunkt dieses Holocaust wird Zeitalter des Humanismus oder Renaissance genannt] und an all die anderen Verbrechen des Patriarchats (auch ethnische Riten oder Bräuche 15 genannt), von der Verkrüppelung weiblicher Füße in China über die Witwenverbrennung in Indien bis zur Klitorisverstümmelung/-entfernung in Afrika. Sie kommen in den von Männern erarbeiteten und verordneten Geschichtsbüchern nicht vor, genausowenig wie die Geschichte der Frauenbewegung und anderer weiblicher Kulturleistungen. Als Musterbeispiel kann hier Golo Mann genannt werden. Seine Urgroßmutter, Hedwig Dohm, sicher die intellektuell bedeutendste Feministin der ersten Frauenbewegung, kommt in seinem Geschichtswerk Deutsche Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts genausowenig vor wie die gesamte Geschichte der Frauenbewegung. 16

5 Schlußbemerkung

    Ursprünglich wollte ich in diesem Vortrag neben den grammatischen Mitteln zur Vaporisierung der Frau auch noch die Technik der semantischen Verdrehung behandeln — für Nicht-LinguistInnen wahrscheinlich das auffälligste und beunruhigendste Teilthema der Sprachkritik Orwells.
    Die drei wichtigsten Slogans der Partei in 1984 lauten:

    Krieg bedeutet Frieden
    Freiheit ist Sklaverei
    Unwissenheit ist Stärke

    Das Ministerium für Folter heißt Ministerium für Liebe, kurz Minilieb, und das Ministerium für Rationierung heißt Ministerium für Überfluß, kurz Miniflu. Wenn die Schokoladenration auf 20 g herabgesetzt worden ist, melden sämtliche Medien mit Stolz, es sei schon wieder gelungen, die Schokoladenration heraufzusetzen, und zwar auf 20 g. Über Zwangsabgaben heißt es (ein besonders instruktives Beispiel für die Sprache des Doublethink ):