Alle müssen sterben - Thriller (German Edition)
abzugeben. Dann fiel ihr ein, dass Braun nicht alleine gekommen war, und ihr verbittertes Gesicht wurde von einem Lächeln aufgehellt, als sie über seine Schulter blickte. Für einen kurzen Augenblick wirkte sie glücklich.
„Jimmy!“, rief sie und schob Braun einfach zur Seite. Seine Mutter stieg die zwei Stufen hinunter in den winzigen Garten und umarmte Jimmy, der verloren auf dem aufgeweichten Rasen stand und seine nassen Sneakers anstierte.
„Hallo, Großmutter! Ich wollte dich einfach einmal besuchen und Tony hat mir versprochen, dass wir das in den Sommerferien machen.“
Ohne Braun weiter zu beachten, schob Renate Braun ihren Enkel in das Gartenhaus. Braun folgte ihnen langsam und versuchte seine unerträgliche Anspannung mit flapsigen Bemerkungen zu überspielen.
„Ist ja ein richtiger Palast, Renate“, kommentierte er das winzige Wohnzimmer, das von einem runden Tisch dominiert wurde.
„Für dich noch immer Mutter!“, fauchte Renate Braun, riss sich dann aber sofort wieder zusammen. „Ich mag es nicht, wenn du mir nicht den nötigen Respekt entgegenbringst!“
„Hört auf, euch zu streiten!“ Jimmy hatte plötzlich Tränen in den Augen und ballte die Fäuste. „Ich will mit Großmutter alleine sein, Tony! Du sorgst immer nur für Streit in der Familie!“
„Woher diese plötzliche Liebe für die Familie!“, schrie Braun und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Dann sage doch einmal deiner Großmutter, dass sie damit begonnen hat!“
„Aufhören!“ Die Stimme von Renate Braun war tief und kratzig und sie verströmte die nötige Autorität, um Braun und seinen Sohn sofort zum Verstummen zu bringen.
„Es ist besser, wenn du mich jetzt mit meinem Enkel alleine lässt“, sagte Renate und stellte sich zwischen Braun und Jimmy. Ihr von Falten durchzogenes Gesicht bekam einen traurigen Gesichtsausdruck, als sie ihren Sohn betrachtete. „Ich habe deinen Bruder Felix immer bevorzugt, das stimmt“, flüsterte sie und wandte den Blick nicht von ihm ab. „Er war immer so ein fröhliches Kind und ist jetzt ein anerkannter Wissenschaftler!“ Nur mühsam konnte sie ihren Stolz verbergen und Braun schnaufte hörbar. „Aber du warst mein Lieblingskind, Anton!“
„Das ist doch lächerlich!“ Braun drehte sich langsam zur Tür. „Jimmy bleibt einige Tage hier“, setzte er dann in einem geschäftigen Ton fort. „Das haben wir ja so vereinbart!“ Er öffnete die rote Tür des Gartenhauses, zögerte, drehte sich dann noch einmal um. „Tut es dir wenigstens leid, was mit Vater passiert ist?“, fragte er zögernd und wartete auf eine dramatische Reaktion, einen Zusammenbruch oder einen emotionellen Ausbruch. Doch stattdessen zuckte Renate Braun nur mit den Schultern und flüsterte beinahe unhörbar:
„Er war ein Schwächling und hat sich vor allem gedrückt! Er hat mich mit euch beiden im Stich gelassen! Er hat immer den einfachsten Weg gewählt.“
„Du findest also, dass es ein einfacher Weg ist, wenn man sich umbringt? Wenn man einfach keinen anderen Ausweg mehr weiß, als in den Heizkeller zu gehen und sich aufzuhängen?“ Nur mühsam konnte Braun seine Wut unterdrücken, aber diesmal ging es um Jimmy, also redete er im Flüsterton weiter. „Du hast ihn ja nicht gefunden, sondern ich! Er hatte keinen glücklichen Gesichtsausdruck, als er da am Heizungsrohr gebaumelt ist, das kannst du mir glauben! Es war der Horror, der blanke Horror!“
Wieder atmete er heftig ein und blies die Luft durch die Nase nach draußen. Es war stickig und drückend schwül in dem kleinen Zimmer. Der Regen trommelte penetrant auf das Dach. Die Luft war elektrisch aufgeladen und Braun roch den Schweiß, den er verströmte. Am liebsten hätte er alles kurz und klein geschlagen, doch diesmal durfte er seinen Emotionen nicht freien Lauf lassen. Er hatte einen Sohn und eine Scheißvorbildwirkung. Wie hatte es seine Therapeutin so schön formuliert: „Stellen Sie sich einen See vor, in den Sie tauchen. Sie tauchen durch eine Röhre und müssen die Luft anhalten. Auf der anderen Seite der Röhre wartet das Glück auf Sie!“
Hörte sich zwar total bescheuert an, aber es wirkte. So auch jetzt. Noch während der letzten Worte seiner Mutter sank Braun nach unten in das eiskalte Wasser seines Bewusstseins und tauchte durch die schwarze enge Röhre, an deren hinterem Ende bereits ein Sonnenstrahl das dunkle Wasser erhellte.
„Lass uns ein andermal darüber reden, Mutter“, hörte er sich mit zittriger Stimme
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