Alle müssen sterben - Thriller (German Edition)
reden, als er wieder auftauchte. „Jetzt ist es vor allem wichtig, dass Jimmy eine gute Zeit bei seiner Großmutter hat!“
Er drehte sich zu Jimmy und knuffte ihn in die Seite. „Also mach es gut, Partner“, sagte er betont locker.
„Lass gut sein, Tony! Du bist nicht mein Kumpel, sondern bloß mein Vater!“ Jimmy zuckte lässig mit den Schultern und fläzte sich auf das schmale Sofa. „Schön gemütlich ist es bei dir, Großmutter“, sagte er und hob bloß die Hand, als Braun die rote Eingangstür öffnete.
Langsam stieg Tony Braun die Stufen nach unten in den Garten, drehte sich noch einmal um, sah das Namensschild „Madame Diodata“ auf der rot gestrichenen Tür, schüttelte den Kopf und dachte, dass seine Mutter in den vergangenen zwanzig Jahren ein anderer Mensch geworden war. So hatte er sie nicht gekannt, vielleicht sollte er sich tatsächlich einmal mit ihr aussprechen und versuchen, sie zu verstehen. Aber er kam nicht mehr dazu, näher darüber nachzudenken, denn sein Handy fiepte und zeigte an, dass eine Mail eingelangt war.
„Samsa ist zurückgekehrt“, las er die Nachricht, sah das Foto und die Welt schien für einen Augenblick stillzustehen und sich noch weiter zu verdunkeln.
„Oh, mein Gott!“, flüsterte er und steckte das Handy schnell weg.
53. Samsa ist zurückgekehrt
Kim Klinger trauerte der Zeit nach, in der sie ihren Rucksack mit den kleinen Jägermeister-Fläschchen aufgefüllt hatte. Damals hatte sie das Scharren in ihrem Kopf im Griff gehabt oder sich wenigstens daran gewöhnt. Nach einer schmerzhaften Chemotherapie und einigen Monaten in der Reha-Klinik hatte das Pochen aufgehört, doch Kim fühlte sich ein wenig desorientiert, so als wäre ein Teil von ihr plötzlich verloren gegangen.
Sie saß gerade bei ihrem Neurologen in der Rehaklinik und betrachtete desinteressiert die verschiedenen Querschnitte ihres Schädels, den man in der Computertomographie wie eine Walnuss in kleine Teilchen zerlegt hatte, um den Krankheitsverlauf besser analysieren zu können. Ihre Gedanken wanderten von ihrem Schädel zu ihrer Journalistenkollegin Petra von Kant, die sich mit ihren Familienstorys so unglaublich wichtig nahm, aber glücklich war. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Tony Braun anzurufen, um sich für das Wochenende mit ihm zu verabreden, aber sie konnte sich einfach nicht durchringen, tagsüber seine Nummer zu wählen. Zu sehr hatte sie sich an die nächtlichen Telefonate mit ihm gewöhnt, sie waren ein lieb gewordenes Ritual, das sie nicht durch einen banalen Anruf entweihen wollte.
Offiziell hätte sie es zwar nie zugegeben, aber sie fand, dass sie fast schon eine Beziehung mit Braun hatte, zwar keine Affäre im herkömmlichen Sinn, sondern eine Beziehung, die auf Vertrauen und Zuneigung beruhte. Sie musste lächeln, als sie sich den Klang seiner Stimme ins Gedächtnis rief. Diese tiefe Stimme, die anfangs nervös, fahrig und auch ein wenig kratzig zögernd war, zu hastig irgendwelchen Small Talk erzählte. Doch mit der Zeit immer ruhiger, einfühlsamer, ehrlicher und vertrauter wurde und deren dunkle Färbung in den vielen Nächten voller Angst und Verzweiflung so beruhigend auf Kim wirkte und ihr ein Gefühl der Sicherheit gab.
„Sieht ja eigentlich ganz gut aus“, riss sie jetzt die übertrieben positiv klingende Stimme des Neurologen aus ihren Gedanken. „Vielleicht noch eine kurze Chemotherapie, sozusagen als Abrundung. Dann hätten wir eigentlich alles Mögliche getan. Eigentlich bin ich zufrieden.“
„Moment mal“, stoppte Kim seinen Enthusiasmus. „In drei Sätzen haben Sie dreimal das Wort ,eigentlich‘ verwendet, was soviel heißt wie: Ich bin mir nicht sicher, meine genau das Gegenteil!“
„Ich verstehe nicht ganz, was Sie mir sagen wollen?“ Der Neurologe war sichtlich verwirrt und rückte sich die Brille zurecht.
„Mein Freund ist bei der Polizei und das Interpretieren von Formulierungen, die bei genauem Hinhören das Gegenteil aussagen, gehört zu seinem Job bei Verhören.“
„Nun, da haben Sie wohl nicht richtig aufgepasst. Sie waren wohl ein wenig abgelenkt“, versuchte der Neurologe der Diskussion eine witzige Note zu geben.
Doch Kim stand nicht der Sinn nach einem witzigen Schlagabtausch.
„Es sieht überhaupt nicht gut aus! Wieso eine neuerliche Chemo?“
„Nun, es gibt da einige kleine Wucherungen.“ Als der Neurologe ihren erschreckten Gesichtsausdruck sah, lenkte er sofort wieder ein, doch an seinen unruhig umherirrenden
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