Alle müssen sterben - Thriller (German Edition)
sein Sprechzentrum war durch einen Gehirnschlag unwiderruflich zerstört. Chloe hatte gelauscht, als einmal der Arzt bei ihm gewesen war und mit Edgar Zorn gesprochen hatte. Langsam zog sie ihr Handy aus der Tasche, aktivierte die Videofunktion, filmte und drehte gleichzeitig den Rollstuhl herum. Unartikuliertes, aber zorniges Gurgeln drang aus dem schiefen Mund von Zoltan Zorn und der Speichel lief ihm jetzt fast wie ein Wasserfall auf die Brust. Sein Kopf mit dem eingefallenen Gesicht zuckte vor und zurück und die noch gesunde linke Hand ballte sich zur Faust und beschrieb einen Halbkreis in der Luft, ohne sie aber zu erreichen. Denn Chloe war geschickt zurückgewichen und hatte Rufus so in Stellung gebracht, dass der alte Mann ihn sehen konnte. Vorsichtig begann sie das violette Tuch, das manchmal das blinde Auge von Rufus verbarg, von seinem großen, eisgrauen Schädel zu wickeln. Mit seinem milchig weißen, toten Auge sah Rufus noch furchteinflößender aus und als er auf eine Handbewegung von ihr mit gefletschten Zähnen geduckt über den Parkettboden auf den alten Mann im Rollstuhl zuschlich, wurde dessen Körper von Panikattacken geschüttelt.
Auf dem Bildschirm ihres Smartphones sah die Szene gespenstisch aus wie in einem Horrorfilm: Rufus, der sich mit seinem toten Auge und den gefletschten Zähnen immer näher schiebt und an einen Werwolf erinnert, dann der alte gelähmte Mann im Rollstuhl, der sich nicht mehr bewegen kann und dessen zuvor noch böser Blick nun einem entsetzten Ausdruck gewichen war und der verzweifelt versuchte, die Panik zu bewältigen.
Rufus verharrte mit zurückgezogenen Lefzen, blickte fragend zu Chloe, die völlig in die Videoaufnahme vertieft war und ihm dann mit einem kurzen Nicken befahl, weiterzumachen, so wie sie es Rufus im Wald beigebracht hatte.
Was würde der alte Mann wohl jetzt zu ihr sagen, wenn er sprechen könnte? Würde er um Gnade flehen? Würde er sie mit Flüchen überschütten?
„Du musst ihn verbrennen“, sagte das Mädchen unvermittelt, das sich plötzlich mitten in die Szene geschoben hatte. „Nimm ein Holzscheit aus dem Kamin und lege es auf seinen Schoß. In kürzester Zeit brennt er ab und mit ihm das verdammte Haus, so wie dein Haus abgebrannt ist.“
Schöne, schöne, schöne Idee, ging es Chloe durch den Kopf und weil sie so lange darüber nachgedacht und dem Mädchen zugehört hatte, war Rufus bereits bei den Beinen des alten Mannes angelangt, die panisch zu zucken begannen, während der Sabber unaufhörlich aus seinem schiefen Mund tropfte.
Mit einem Seufzer drehte sich Chloe um und filmte das prasselnde Feuer, das leuchtete und glänzte und überirdisch schön war, so schön, dass sie am liebsten die Hand hineingehalten hätte, um die Flammen zu streicheln.
„Nimm ein Holzscheit“, sagte das Mädchen, das jetzt direkt vor dem Feuer stand und einladend nach unten auf die knisternden Holzscheiter wies. „Nimm es einfach in die Hand, es tut überhaupt nicht weh!“
Chloe zögerte und filmte das Feuer und in ihrem Kopf begann sich alles zu verändern – die Erinnerung spielte verrückt und sie lief durch das brennende Zimmer, aber Mutter war bereits tot.
Überhaupt verlor sie jetzt den Überblick, denn Rufus hatte sich bereits aufgerichtet und sein stinkendes Maul war ganz nahe am Gesicht des alten Mannes. Mit einem wütenden Knurren leckte er ihm über das faltige, verschrumpelte Gesicht mit dem schiefen Mund, leckte den Sabber aus den Mundwinkeln und leckte über die starren Augen, die vor Ekel und Angst nur so zuckten. Als hätte man einen Lautsprecherregler nach oben gezogen, begann der alte, gelähmte Mann plötzlich zu krächzen und zu kreischen und schrille Laute auszustoßen, die so grell, schneidend und schmerzhaft waren, dass Chloe abwechselnd links und rechts einen Zeigefinger in ihre Ohren steckte, um das klagende Gekreische nicht länger hören zu müssen. Rufus schrak zurück und begann zu jaulen, dann sprang er erneut nach vorne und leckte wieder knurrend das Gesicht des alten Mannes und ließ sich durch die spitzen Schreie nicht mehr aus der Ruhe bringen. Chloe filmte und filmte und rückte gefährlich dem Feuer nahe, so nahe, dass sie die heiße Luft spürte und ihre Wangen sich erhitzten und glühten. So wie die Wangen damals geglüht hatten, als Mutter überraschend nach Hause gekommen war. Doch Mutter war tot, tot, tot.
„Du sollst ein Scheit nehmen! Es geht ganz einfach!“
Ja, ja, ja! Es hätte nicht viel gefehlt
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