Alle müssen sterben - Thriller (German Edition)
ihr Retter und schenke ihr ganz neue Finger zum Klavierspielen!“ Mit offenem Mund hörte er zu, was Glanz zu erwidern hatte und kratzte sich seinen grauen Kinnbart.
„Nein, die abgeschnittenen Finger waren nicht mehr zu retten. Ja, unsachgemäße Lagerung in der Eisbox. Bekommt sie eben neue Finger! Das ist doch heutzutage kein Problem.“
Er erwähnte das ohne die geringste Empathie. Als er Polina heute in dem blütenweißen Krankenbett gesehen hatte, war ihre unschuldige, reine Aura mit einem Mal verschwunden. Auf ihn hatte sie nur in der schmutzig-düsteren Umgebung der Fabrikhalle wie ein reiner Engel gewirkt.
„Verlasse dich auf mich, Hendrik“, flüsterte Zorn in das Handy. „Ich habe alles unter Kontrolle!“
Zorn trennte die Verbindung und lauschte an der Tür. Er hörte drinnen Polina schluchzend „Ich will nach Hause!“ rufen und Xenia genervt auf sie einreden. Nervös fuhr er sich durch seine dichten grauen Haare und war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er tatsächlich noch alles unter Kontrolle hatte.
40. Der geheimnisvolle Gefangene
Acht Quadratmeter genügen zum Leben, das hat eine wissenschaftliche Untersuchung ergeben. Auf acht Quadratmetern kann man ein ganzes Leben zubringen und auch Dinge, die sich in einem Leben ansammeln, verstauen. Acht Quadratmeter sind oft mehr als eine durchschnittliche Familie in der Dritten Welt zur Verfügung hat. Mit acht Quadratmetern, die man ohne Rücksicht auf andere Menschen bewohnen kann, ist man also privilegiert. Allerdings kann man diese acht Quadratmeter nicht verlassen, wenn man möchte. Dafür gibt es fixe Zeiten, nach denen man sich richten muss. Und auch der Ausblick ist alles andere als erbaulich. Es ist eigentlich gar kein Ausblick. Das Fenster ist hoch oben an der Wand und nur wenn man sich mit den Händen an den betonierten Fenstersims klammern und mit einem Klimmzug hochziehen würde, könnte man einen Blick nach draußen erhaschen. Das war aber zumindest für diesen Bewohner vollkommen ausgeschlossen, also lag er auf dem schmalen Bett, sah immer nur ein winziges Stück Himmel und zeichnete die Wolkenformationen, die im Wind dahinrasten und in vollkommener Freiheit über den Himmel stürmten.
Der Mann, der dieses acht Quadratmeter große Apartment nun schon seit bald zwei Jahren bewohnte, war wegen Mordes rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er hatte ein Geständnis abgelegt und sich geweigert, auf Grund eines psychiatrischen Gutachtens einer Wiederaufnahme seines Prozesses zuzustimmen. Das konnte niemand verstehen, aber bisher war es ihm gelungen, sämtliche Argumente, die für eine Neuauflage vorgebracht wurden, zu entkräften.
An diesem Vormittag saß er an seinem schmalen Tisch, der gleichzeitig zum Schreiben und zum Essen diente, und klebte ein Post-it auf eine Anzeige in der Vorabausgabe einer internationalen Modezeitung. Für diese Zeitschrift entwarf er schon seit Jahren das kreative Layout und die Herausgeber fanden auch nichts dabei, dass er im Gefängnis saß. Langsam legte er das Heft neben zwei Fotokopien, die er mit einer ausgedruckten Mail von den zuständigen Beamten erhalten hatte, und ließ die Augen prüfend hin und her schweifen. Seine Erinnerung hatte ihn also nicht getäuscht, es gab eine eindeutige Übereinstimmung zwischen den Abbildungen. Lächelnd schüttelte er den Kopf.
Dass sie selbst nicht auf diese Verbindung gekommen waren, dachte er. Andererseits, niemand hatte so viel Zeit wie er, sich mit Anzeigen in Modezeitschriften zu beschäftigen. Für alle ging das Leben hektisch und stressig weiter und näherte sich in rasender Geschwindigkeit dem Ende, für ihn aber war nach seiner Verurteilung die Zeit stehen geblieben und er hatte aufgehört, Jahre, Tage, Stunden und Minuten zu zählen.
„Sie müssen zur Therapie!“, rief der Wärter durch die dicke Stahltür und trommelte mit der Faust von außen dagegen, sodass es in seinen acht Quadratmetern hallte wie in einem gotischen Dom.
„Die Therapie ist doch am Nachmittag“, antwortete er und achtete penibel darauf, seine Stimme nicht über Gebühr zu heben und so gleichgültig wie nur möglich zu klingen.
„Nachmittags haben Sie Besuch“, antwortete der Beamte und trommelte wieder an die Tür. Gegen seinen Willen zuckte er zusammen und fuhr mit seinem Rollstuhl schnell zur Tür.
„Besuch? Wieso habe ich Besuch?“, rief er und legte sein Ohr an die Stahltür, um keinen einzigen Satz der Antwort zu überhören.
„Es ist die
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