Alle muessen sterben
schreit Mutter unter Tränen dann zu Chloes Liebhaber und holt mit einer abgehackten Handbewegung aus der Tasche ihres Kaftans eine Streichholzschachtel hervor. Blitzschnell reißt sie ein Streichholz an und lässt es unter Heulen und Wehklagen zu Boden fallen. Wie paralysiert starren alle auf das Streichholz, das wie eine Sternschnuppe in Zeitlupe durch die benzingeschwängerte Luft segelt, leicht wie eine Feder auf dem Holzboden landet und sofort das Benzin entzündet.
In einem wunderschön leuchtenden Orange breitet sich das Feuer blitzartig auf dem Boden aus und schießt wie eine züngelnde Schlange in rasender Geschwindigkeit auf das Bett zu. In diesem presst sich eine zitternde Chloe noch immer das Leintuch vor die Brust, um ihre Nacktheit zu verbergen. Ihr Liebhaber starrt noch immer ihre Mutter an, öffnet dann den Mund, um vielleicht doch noch ein Wort der Entschuldigung oder Rechtfertigung hervorzustammeln, doch dafür ist es jetzt zu spät.
Das Feuer versengt ihre Füße und sie springen aus dem Bett und laufen zum Fenster. Chloes Liebhaber schlägt mit dem Ellbogen die Scheibe ein und ein Schwall eisig kalter Luft schießt in das Schlafzimmer. Der Luftzug befeuert die Flammen, die jetzt die Matratze von Chloes Bett erreicht haben. Mit einem schrillen Schrei springt der Liebhaber aus dem Fenster hinaus in die Finsternis und Chloe folgt ihm. Mutter steht im Fenster, der Kaftan hat sich um einen eisernen Wandhaken gewickelt und sie schafft es nicht, ihn zu lösen oder den Stoff zu zerreißen. Bis zu den Hüften steht sie schon in diese wunderschönen orangefarbenen Flammen gehüllt auf dem brennenden Fenstersims und schreit mit einer hasserfüllten Stimme, die nicht mehr von dieser Welt ist: „Du Schlampe! Ich werde sterben und das ist nur deine Schuld!“
Dann kann sich Mutter doch losreißen und springt hinunter in den Schnee und für einen kurzen Augenblick denkt Chloe, dass Mutter gerettet ist und alles wieder gut wird. Doch das andere Mädchen löscht nicht die Flammen, die jetzt Mutters Haare erreichen, sondern sieht nur teilnahmslos zu, wie Mutter brennend durch den Schnee kriecht.
Als das Feuer bereits die Haut von ihren Wangen schält, ruft Mutter mit einer Stimme, die so traurig und enttäuscht und hoffnungslos klingt, nach Chloes Geliebten, der jedoch längst in der Nacht verschwunden ist:
„Zoltan Zorn, warum fickst du deine eigene Tochter, du Schwein?“
„Wollen Sie noch etwas auf die Tafel schreiben?“, fragte Goldmann, der Psychiater, und schaltete die Kamera ab. Doch Chloe schüttelte nur heftig den Kopf und ihre strähnigen roten Haare flogen umher wie eine neunschwänzige Katze. Langsam trat sie von der Tafel zurück, die sie mit ihrer krakeligen, winzigen Schrift von oben bis unten vollgeschrieben hatte, und las noch einmal den Text. Dann trat sie wieder nach vorne, riss das Blatt herunter, das sanft zu Boden segelte und schrieb quer über das nächste leere weiße Blatt: „Alle müssen sterben“.
51. Der Verrat beginnt
In der schwarzen Halle herrschte Hochbetrieb. Noch in der Nacht hatten Tony Braun und Elena Kafka ihr Gespräch mit Edgar Zorn analysiert und waren beide zu demselben Schluss gekommen: Red Zorn war auf eine ihnen noch unbekannte Art und Weise in die Morde verwickelt. Doch zunächst mussten sie Fakten sammeln und deshalb saß Chiara am nächsten Morgen auch vor ihrem privaten Laptop, der mit einem Zusatzprozessor versehen war und nicht über den Server der Polizei lief.
Plötzlich stand ein kleiner, ältlicher Mann neben ihnen, der durch seine gebückte Haltung noch schmächtiger wirkte. Er trug einen speckigen Anzug, der zwei Nummern zu groß wirkte. Seine billige Brille war verschmiert und mit seinem freundlich nichtssagenden Gesicht blickte er interessiert umher, wirkte auf den ersten Blick vollkommen harmlos. Doch er war nicht harmlos und er machte seinem Namen alle Ehre, das wusste Braun aus eigener Erfahrung: Es war Geyer von der internen Ermittlung.
„Chefinspektor Braun, haben Sie kurz Zeit für mich?“, fragte Geyer mit leiser Stimme.
„Ist im Augenblick echt schlecht“, blockte Braun sofort ab. „Wir stecken mitten in einer Mordermittlung.“
„Ich kann meinen leitenden Beamten jetzt auf keinen Fall entbehren“, mischte sich auch Elena Kafka ein und stellte sich direkt vor Geyer, den sie um gut zwei Köpfe überragte.
„Natürlich, Polizeipräsidentin, ich verstehe. Mordermittlungen haben immer Vorrang. Ich komme dann ein anderes Mal
Weitere Kostenlose Bücher