Alle muessen sterben
diese Angst. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie sagte sich immer wieder, dass es überhaupt keinen Grund dafür gab. Sie bräuchte nur die Tür zu öffnen und Polina mitzunehmen. Dann einen Streifenwagen zu rufen, der sie beide abholen würde. Hätte sie auch jetzt noch machen können. Sie tat es aber nicht. Stattdessen ging sie extrem angespannt über die dicken Teppiche den Korridor entlang nach hinten zu Suite Nummer 4.
Elena Kafka öffnete die Tür, die geräuschlos aufschwang. Der Raum war komplett weiß gehalten, selbst die beiden kleinen Sofas, die in einem Erker standen, waren aus weißem Leder. Ein Rundbogen trennte diesen Wohnraum vom eigentlichen Krankenzimmer. Das Krankenbett war riesig, Kingsize, das erkannte Elena Kafka auf den ersten Blick. Polina verschwand beinahe hinter den aufgetürmten Kissen und ihre langen, glänzenden schwarzen Haare bildeten einen scharfen Kontrast zu dem weißen Bettbezug. Durch die Fenster drang gedämpft der Verkehrslärm der Stadt. Die Klimaanlage surrte monoton und der Regen prasselte gegen die Scheiben. Ansonsten war es still.
Erst als Elena Kafka weiter in den Raum ging, bemerkte sie einen Mann in einem weißen Kittel, der anscheinend gerade dabei war, den Verband an Polinas Hand zu kontrollieren.
„Wer sind Sie?“, fragte Elena Kafka in die Stille hinein und der Mann erstarrte sekundenlang mitten in der Bewegung. Dann ging ein Beben durch seinen Körper und mit einem tiefen Seufzer drehte er sich um.
„Dr. Müller. Ich bin der behandelnde Arzt von Polina. Mein Gott, haben Sie mich aber erschreckt!“
„Tut mir leid, Doktor“, entschuldigte sich Elena Kafka und lächelte gequält. „Ich bin Elena Kafka, die Polizeipräsidentin. Auf meine Anweisung hin wird Frau Porzikova verlegt. Ich bin hier, um das zu veranlassen.“
„Das wird Herrn Zorn aber gar nicht recht sein“, wandte der Arzt ein. „Wo er sich doch so um das arme Mädchen bemüht und sogar einen Film über sie gedreht hat.“
„Ich weiß, ich weiß. Aber da kann ich ihm auch nicht helfen. Es ist eine polizeiliche Anordnung. Da müssen private Interessen eben zurückgestellt werden.“
Der Arzt blickte Elena Kafka prüfend an, kniff die dicken Lippen zusammen und schien zu überlegen.
„Aber das geschieht auf Ihre Verantwortung. Wir haben Frau Porzikova ihre beiden Finger wieder angenäht, aber es kann trotzdem zu einer Abstoßungsreaktion kommen. Ich lasse meine Patientin daher nur ungern gehen. Vielleicht möchten Sie sich noch einmal bei der Staatsanwaltschaft rückversichern, dass alles seine Ordnung hat.“
Elena Kafka überprüfte vorsichtig den Sitz ihrer straff nach hinten gebundenen schwarzen Haare, während sie überlegte: Sicher, es wäre klug, Oberstaatsanwalt Ritter über diese Aktion zu informieren und gleichzeitig eine Streife anzufordern.
„Sie haben recht!“, entschied sie sich dann. „Ich telefoniere mit der Staatsanwaltschaft.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche, doch der Arzt wies auf das durchgestrichene Handysymbol neben dem Bett.
„Verstehe“, sagte Elena Kafka. „Ich bin gleich wieder zurück.“ Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, zog sie sofort einen Nikotinkaugummi aus ihrer Tasche, noch lieber hätte sie eine Zigarette geraucht. Der Arzt erinnerte sie an jemanden, den sie erst kürzlich gesehen hatte, aber sie kam nicht darauf. Während sie die Nummer von Oberstaatsanwalt Ritter wählte, ging sie den Korridor entlang. Der Empfang war noch immer nicht besetzt, obwohl das Telefon lautlos blinkte.
Der Arzt hatte von der Gefahr einer Abstoßungsreaktion gesprochen, die auftreten könne. Man hatte Polina die eigenen Finger wieder angenäht. Das war ein Glück für das Mädchen. Bei Ritter kam sie nur auf die Mailbox, sie hinterließ ihm eine kurze Nachricht, dass er sie zurückrufen solle.
Sie dachte an den Imagefilm, den ihnen Xenia Hansen in der Zentrale von Red Zorn vorgespielt hatte. Polina im Bett und Xenia Hansens Kommentare. „Leider war es nicht mehr möglich, die Finger anzunähen ...“ Da fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen und sie machte auf der Stelle kehrt. Sie rannte den Korridor zurück zu Nummer 4 und drückte auf die Türklinke. Die Tür ließ sich nicht öffnen.
„Polizei! Öffnen Sie sofort die Tür!“ Sie hämmerte mit dem Griff ihrer Smith & Wesson gegen das massive Holz. Die Tür gab nicht nach und kein Laut drang nach draußen. Kurz entschlossen feuerte sie auf das Schloss und endlich schwang die Tür auf.
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