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Alle sieben Wellen

Titel: Alle sieben Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Glattauer
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Weit unter deinen Möglichkeiten.
     
    Am Abend des nächsten Tages
    Betreff: Der Fremde
    Liebe Emmi, seit einer Stunde lösche ich E-Mail-Fragmente, in denen ich versuche zu beschreiben, wie es mir bei unserem Treffen mit dir ergangen ist. Ich schaffe es nicht, meine Eindrücke zu bündeln. Was immer ich über dich sage, klingt banal, phrasenhaft, »weit unter meinen Möglichkeiten«. Jetzt probiere ich es andersrum. Ich erzähle dir, wie es DIR bei unserem Treffen mit mir ergangen ist. Darf ich mich ausnahmsweise deiner griffigen Punktetabelle bedienen? Also:
    1.) Dich hat gestört, dass ich vor dir dort war.
    2.) Dich hat gewundert, dass ich dich sofort erkannt habe, weil du ja wusstest, dass ich nicht mit »dieser« Emmi gerechnet hatte.
    3.) Dich hat befremdet, dass ich dich auf die Wange geküsst habe, als wäre das ein über Jahre einstudiertes Zeremoniell zwischen uns. (Die zweite Wange hast du mir verwehrt, ich hab’s verstanden.)
    4.) Du hattest von der ersten Sekunde an das Gefühl, einemFremden gegenüberzusitzen, der behauptete, Leo Leike zu sein, der aber jeden Beweis schuldig blieb, dass er es war.
    5.) Dieser Fremde war dir keineswegs unsympathisch. Er sah dir in die Augen. Er brachte den Mund auf und schloss ihn rechtzeitig. Er erzählte keine ausufernden Geschichten. Er geriet nicht in Panik, wenn längere Sprechpausen entstanden. Er hatte weder Mundgeruch noch zuckten seine Augenbrauen. Er war ein kurzweiliger, unpeinlicher, wenn auch heiserer Gesprächspartner. Du musstest aber dennoch immer wieder die schöne smaragdgrüne Armbanduhr, die sich ein wahrlich graziles Handgelenk ausgesucht hatte, befragen, wie lange du noch gezwungen sein würdest, Nähe vorzutäuschen beziehungsweise vorgetäuscht zu bekommen, die es im öffentlich zugänglichen Raum nicht einmal in feinsten Nuancen gab. Nichts an mir kam dir bekannt vor. Nichts an mir war dir vertraut. Nichts an mir hat dich berührt. Nichts an mir hat dich an Schreiber Leo erinnert. Nichts aus der Mailbox hatte sich auf den Kaffeehaustisch übertragen lassen. Keine deiner Erwartungen hatte sich erfüllt, liebe Emmi. Und deshalb bist du, was das Kapitel Leo Leike betrifft, einigermaßen, nein, »enttäuscht« wäre zu hoch gegriffen. Ernüchtert. Ernüchtert trifft es eher: »Das ist er also wirklich, der Leo Leike. Aha. Na ja.« So wirst du jetzt wohl denken. Stimmt’s?
     
    Eine Stunde später
    RE:
    Ja, danke für das Kompliment, lieber Leo. Die grüne Uhr ist wirklich schön, ich trage sie schon seit vielen Jahren. Ich habe sie bei einem serbischen Antiquitätenhändler in Leipzig erstanden. »Geht gut, du gucken Tag, du gucken Nacht, immer so richtig Zeit«, hat er versprochen. Und tatsächlich: Wann immer ich auf die Uhr schaute, dann war es so richtig Zeit. So, und es ist wieder einmal so richtig Zeit. Alles Liebe. Emmi.
     
    Zehn Minuten später
    AW:
    Liebe Emmi, ich finde deine Ausweichmanöver ja wirklich sehr elegant, geradezu kokett. Aber meinst du nicht, dass es fair wäre, mir zu sagen, warum du sauer bist? Ich würde mir in der Nacht dann etwas leichter tun, mit dem Schlaf, wenn du verstehst.
     
    20 Minuten später
    RE:
    Okay, Leo, eigentlich hätte mich ja mehr interessiert, wie DU über mich denkst und was DU gefühlt hast oder hättest (vorausgesetzt, du hättest gefühlt). Meine eigenen Regungen und Empfindungen kenne ich selbst nach dem Treffen doch noch immer um eine Spur besser als du. Glaub es mir. Aber lieb, dass du dir die Mühe gemacht hast. Gute Nacht.
     
    Am nächsten Abend
    Betreff: Der Nichtvorhandene
    Lieber Leo, ich sehe schon, du verkrampfst dich derzeit ein bisschen beim Schreiben. Vielleicht hast du dich mit deiner Lockerheit am Kaffeehaustisch übernommen. Aber ich will kein Spielverderber sein: Ich verrate dir, wie es DIR bei unserem Treffen mit mir ergangen ist. Also:
    1.) Du warst so blendend darauf vorbereitet, jeder Emmi, die da kommen mochte, der perfekte, gewandte, galante, souveräne und doch so bescheiden auftretende würdevolle E-Mail-Beziehungsabschließer Leo Leike zu sein, dass es beinahe schon egal war, welche Emmi dann tatsächlich kam.
    2.) Gratuliere, Leo, du hast es dir kaum anmerken lassen, wie verblüfft du warst, wie anders ich aussah, als du gedacht hattest.
    3.) Gratuliere, Leo, du hast es dir kaum anmerken lassen, wie sehr es dich wunderte, wie mittelgroß, brünett, schüchtern und scheu ich auf einmal sein konnte. (Die Melancholie hatteich sicherheitshalber an der Garderobe

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