Alle Singen Im Chor
plötzlich in der Küche auf. «Piia konnte offenbar auch nicht schlafen, vor schlechtem Gewissen wahrscheinlich …» Tuulia warf einen Blick in den Kühlschrank. «Jetzt sind wir gar nicht dazu gekommen, die Meeresfrüchte zu dünsten. Kommt doch zum Essen zu mir, wenn ihr das Verhör hinter euch habt. Ein Abendmahl zum Gedenken an Jukka … Die Tomatensoße hat genau die richtige Farbe. Schade, dass wir nur Weißwein haben.»
«Hör auf damit», fauchte Mirja. Sie hatte das Zittern in Tuulias Stimme nicht bemerkt. Ich ging in den ersten Stock hinauf und landete in einem Vorraum, wo Jyri gerade seinen Schlafsack aufrollte. Ein schmaler Flur schloss sich an, an dessen Ende ein großes Schlafzimmer lag, offenbar gehörte es Jukkas Eltern. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, auf dem Bett sah ich die Beine einer Frau. Eine Männerhand streichelte sie. Sicher Sirkku und Timo.
In Jukkas Schlafzimmer war niemand. Ein Teenager-Zimmer, in dem in den letzten zehn Jahren wohl nichts verändert worden war. Meerblaue Textilien, an der Wand Segelposter, im Bücherregal zwei leere Rumflaschen, Segelbücher, daneben eine Gitarre. Auf dem Stuhl lag ein Pullover, die Schuhe waren unters Bett geschoben. Jukka war in seiner Todesnacht barfuß unterwegs gewesen – wahrscheinlich hatte er niemanden wecken wollen. Das Bett war nicht gemacht. Wohin Jukka auch gegangen war, offenbar hatte er vorher geschlafen und wollte danach wieder ins Bett.
Auf dem schmalen Bett im letzten Zimmer lag Antti Sarkela, die Hände im Nacken verschränkt. Bei meinem Anblick sprang er auf wie ein Rekrut vor dem Feldwebel.
«Und? Heiße Spuren entdeckt?» Seine Stimme klang gehässig.
«Vielleicht. Du hast in diesem Zimmer geschlafen?»
«Ja.»
«Du kennst … kanntest Jukka ziemlich gut. Würdest du mal eben in sein Zimmer kommen und nachsehen, ob etwas fehlt?»
Antti schien zu groß für das kleine Zimmer.
«Sieht nicht so aus, als ob was fehlt.» Er warf einen Blick in den Kleiderschrank. «Die gleichen Klamotten wie immer. Das meiste, was Jukka fürs Wochenende brauchte, hatte er hier im Haus, auf der Herfahrt hatte er nur eine kleine Tasche bei sich. Da steht sie ja … Ist weiter nichts drin, Noten, frische Socken … Das Zimmer sieht jedenfalls genauso aus wie sonst.»
Anttis Blick fiel auf eine abgegriffene Chormappe, die auf dem Tisch lag. Sie war bei Kuulas Lied «Stromab treibet mein Boot» aufgeschlagen. Für gereimte Verse habe ich eigentlich nichts übrig, aber Eino Leinos Gedicht, das Kuula vertont hat, mag ich sehr. Jukka hatte am Seitenrand eine Menge Notizen gemacht. Antti wandte den Blick ab, ich sah, dass er sich auf die Lippe biss.
«Habt ihr das gestern geübt?», fragte ich, um überhaupt etwas zu sagen.
«Unter anderem. Es waren finnische Lieder bestellt.»
Jukkas Brieftasche lag neben dem Notenbuch, ich nahm sie an mich. Ich hatte das seltsame Gefühl, nicht alles zu registrieren, was mir das Zimmer verriet.
Endlich konnten wir aufbrechen. Die Techniker blieben noch da und suchten nach einem Gegenstand, der als Mordwaffe infrage kam. Das Ufer wurde abgesperrt. Die Streifenbeamten blieben ebenfalls, sie sollten Jukkas Eltern in Empfang nehmen, die im Lauf des Abends eintreffen mussten.
Ich musterte das verwirrte Grüppchen, das ich bald vernehmen würde. Im Prinzip konnte irgendein Herumtreiber Jukkas Tod beobachtet oder gar verursacht haben, diese Möglichkeit durfte ich nicht außer Acht lassen, aber vorläufig stand das vom Doppelquartett übrig gebliebene Septett im Vordergrund. Das eine oder andere Chormitglied wusste mit Sicherheit mehr, als es mir erzählt hatte. Falls einer der sieben der Täter war, hatte ich es nicht mit einem kaltblütigen Berufsverbrecher zu tun, sondern mit einem ganz gewöhnlichen Menschen, der bald unter seiner Schuld zusammenbrechen würde, dachte ich optimistisch.
Antti und Tuulia standen am Ufer und gaben seltsame Töne von sich. Dann schienen sie den Schutzleuten etwas zu erklären. Ich ging hin, um sie zum Aufbruch zu mahnen.
«Was ist los?»
«Einstein. Meine Katze», erwiderte Antti. «Sie hat sich seit zwei Stunden nicht blicken lassen, ich kann doch nicht ohne sie abfahren.»
«Meinst du, sie hat sich verlaufen?», fragte Tuulia besorgt.
«Die ist doch hier geboren! Sie wird auf einem ihrer Streifzüge sein.»
«Ich schlage vor, du fährst trotzdem mit. Du kannst ja später zurückkommen und nach deiner Katze suchen», sagte ich unfreundlicher, als ich eigentlich wollte.
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