Alle Tage: Roman (German Edition)
pünktlich erschienen, sagte aber anschließend kein Wort, nickte nur zu allem, was Mercedes sagte. Sind Sie sicher? fragte die Anwältin hinterher. Vielleicht sollte jeder seinen eigenen… Nein, sagte Mercedes. Das ist kein Streitfall. Plus die Kostenersparnis.
Es war also schon zu wissen, dass es auch diesmal nicht glatt gehen würde, warum sollte es ausgerechnet diesmal glatt gehen. Sie standen auf dem Gerichtsflur, die Anwältin redete etwas, Mercedes sagte nichts, beide warteten sie. Draußen sammelte sich eine letzte Brüllhitze, als würde der scheidende Sommer mit hochrotem Kopf noch einmal das Maul aufreißen und einen (Mercedes, das ist ihre Assoziation) heiß und verächtlich anhauchen, aber hier drinnen zog es fröstelig kühl den langen, grünlichen Flur herauf.
Als das Handy der Anwältin klingelte, waren es nur noch fünf Minuten bis zum Termin, und, natürlich: er war dran. Mercedes spitzte die Ohren, ob sie ihn sprechen hörte und wie er klang, aber es war nichts zu hören, nur die Echos der Flure und die Anwältin, wie sie Hm-Aha-Verstehe-In-Ordnung sagte.
Er habe, berichtete sie, angerufen, um mitzuteilen, dass er unterwegs sei, das heißt, so gut wie, es gäbe da nämlich ein Problem. – Wieso überrascht mich das nicht? Jedes Mal, wenn sich dieser Mann auf den Weg machen will, wohin auch immer, taucht ein Problem auf. – Das Problem sei diesmal, dass er ein Taxi nehmen müsse, nein, das sei nicht das Problem, das Problem sei, dass er es nicht bezahlen könne, er habe momentan leider so gut wie kein Geld, aber er müsse dieses Taxi nehmen, sonst würde er es nicht bis zum Gericht schaffen, schon gar nicht rechtzeitig.
Verstehe.
Sie standen noch eine Minute nebeneinander auf dem Flur, dann sagte die Anwältin, sie würde jetzt hinausgehen und vor dem Gebäude auf ihn warten. Mercedes nickte und ging auf die Toilette.
Sie musste nicht auf die Toilette, aber draußen auf dem Flur stehen konnte sie auch nicht. Sie wusch sich die Hände, stand mit tropfenden Fingern vor dem Spiegel, sah sich an.
Frauenstimme (singt): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Männerstimme (singt mit ihr): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Andere Stimmen (singen mit ihnen): Do-o-na no-o-bis pa-a-cem pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Alle: Do-na. No-bis. Pa-a-cem, pa-cem. Doooo-naa no-o-bis paaaa-cem.
Frauenstimme: Do-o-na no-o-bis …
Männerstimme: Do-o-na no-o-bis
Frauenstimme (gleichzeitig): Paa-cem pa-cem.
Männerstimme: Paa-cem pa-cem.
Frauenstimme (gleichzeitig): Doooo-naa no-o-bis.
Andere Stimmen (gleichzeitig): Do-o-na no-o-bis.
Männerstimme (gleichzeitig): Paa-cem, pa-cem.
Andere Stimmen: Paa-cem pa-cem.
Männerstimme (gleichzeitig): Doooo-naa noo-bis.
Frauenstimme (gleichzeitig): Paaa-a-cem.
Andere Stimmen (gleichzeitig): Doooo-naa noo-bis.
Alle: Paaa-a-cem. (Mit ein wenig Konzentration bringt man das alles schon auf die Reihe.)
Auf dem Flur war es nicht zu hören, nur hier: In der Nähe oder weit weg probte ein Chor, oder was ist das, ein Friedensgebet, aber wieso am Montag mittag, Mittagspause, sie verwenden ihre Montagmittagspause, um Dona nobis pacem zu singen. Wie lange schon, keine Ahnung, jedenfalls unermüdlich. Frieden unsrer Seele, Frieden unsrer Seele, Friede, Friede.
Der dunkle Lippenstift ist ungewohnt. Das spitze Lippenherz. Wieso muss man sich für seine Scheidung schminken? Andere Frauen kommen und gehen, schauen sich ebenfalls im Spiegel an, ihre dunklen oder helleren Lippen, Mercedes schaut ihnen durch den Spiegel zu, sie schauen Mercedes zu oder schauen ihr nicht zu, sie gehen, Mercedes bleibt. Mit einem Papierhandtuch den Mund abzuwischen ist riskant. Rotes bleibt in den Härchen drumherum zurück. Himbeersirupmund. Jetzt verkrümmt er sich nach unten. Ich bin weniger ärgerlich als traurig. Friede, Friede, Friede.
Maria von der Gnade der Gefangenenbefreiung, sagte Tatjana zu Erik. Unsere Freundin Mercedes hat eine Art Genie oder was aus Transsylvanien oder wo geheiratet, den sie aus dem Feuer oder so ähnlich gerettet hat.
Eigentlich, sagte Mercedes’ Mutter Miriam, ist alles in Ordnung mit ihm. Ein höflicher, stiller, gutaussehender Mensch. Und gleichzeitig ist nichts in Ordnung mit ihm. Wenn man das auch nicht näher benennen kann. Etwas ist verdächtig . Die Art, wie er höflich, still und gutaussehend ist. Aber vielleicht ist das so, wenn man hochbegabt ist.
Was heißt hier: hoch ? Nun gut, er
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