Alle Tage: Roman (German Edition)
Vögel
Nennen wir die Zeit jetzt , nennen wir den Ort hier . Beschreiben wir beides wie folgt.
Eine Stadt, ein östlicherer Bezirk davon. Braune Straßen, leere oder man weiß nicht genau womit gefüllte Lagerräume und vollgestopfte Menschenheime, im Zickzack an der Bahnlinie entlang laufend, in plötzlichen Sackgassen an eine Ziegelsteinmauer stoßend. Ein Samstagmorgen, seit kurzem Herbst. Kein Park, nur ein winziges, wüstes Dreieck sogenannte Grünfläche, weil etwas übrig geblieben war am spitzen Zusammenlaufen zweier Gassen, so ein leerer Winkel. Plötzliche Böen frühmorgendlichen Windes – das kommt von der zerklüfteten Straßenstellung, so ein soziales Gebiss –, rütteln an einer hölzernen Scheibe, einem alten oder nur so aussehenden Kinderspielzeug, das am Rande der Grünfläche steht. Daneben der frei schwebende Tragering eines Mülleimers, der Eimer selbst fehlt. Einzelner Abfall liegt im nahen Gestrüpp, das es in Anfällen von Schüttelfrost loszuwerden versucht, aber es fallen meist nur Blätter klappernd auf Beton, Sand, Glasscherben, ausgetretenes Grün. Zwei Frauen und wenig später noch eine, auf dem Weg zu oder von der Arbeit. Schneiden hier die Ecke ab, trampeln über den Trampelpfad, der das Grün in zwei Dreiecke teilt. Eine der Frauen, eine Korpulente, zieht im Vorbeigehen zwei Finger über den Rand der hölzernen Scheibe. Der Scheibenfuß quietscht auf, es hört sich an wie der Schrei eines Vogels, oder vielleicht war es wirklich ein Vogel, einer von den Hunderten, die über den Himmel ziehen. Stare. Die Scheibe dreht sich torkelnd.
Der Mann habe auch irgendwie wie ein Vogel ausgesehen, oder eine Fledermaus, aber eine riesige, wie er da hing, seine schwarzen Mantelflügel zuckten manchmal im Wind. Zuerst dachten sie, sagten die Frauen später aus, jemand hätte nur seinen Mantel dort vergessen, auf dieser Teppichklopfstange oder was das ist, ein Klettergerüst. Aber dann sahen sie, dass unten Hände heraushingen, weiße Hände, die Spitzen der gekrümmten Finger berührten fast den Boden.
An einem Samstagmorgen zu Herbstbeginn fanden drei Arbeiterinnen auf einem verwahrlosten Spielplatz im Bahnhofsbezirk den Übersetzer Abel Nema kopfüber von einem Klettergerüst baumelnd. Die Füße mit silbernem Klebeband umwickelt, ein langer, schwarzer Trenchcoat bedeckte seinen Kopf. Er schaukelte leicht im morgendlichen Wind.
Größe: circa… (sehr groß). Gewicht: circa… (sehr dünn). Arme, Beine, Rumpf, Kopf: schmal. Haut: weiß, Haar: schwarz, Gesicht: länglich, Wangen: länglich, Augen: schmal, Tränensäcke beginnend, Stirn hoch, Haaransatz herzförmig, Augenbraue links tief, Augenbraue rechts hochgezogen – ein mit den Jahren zunehmend asymmetrisch gewordenes Gesicht mit einer wachen rechten und einer schlafenden linken Seite. Ein nicht schlecht aussehender Mensch. Aber gut , auch das ist etwas anderes. Zwischen abheilenden älteren Blessuren ein halbes Dutzend neue. Doch abgesehen davon:
Etwas ist jetzt doch anders, dachte seine Frau Mercedes, als man sie später ins Krankenhaus rief. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich ihn das erste Mal schlafen sehe.
Eigentlich nicht, sagte der Arzt. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt. Bis wir wissen, wie es um sein Gehirn steht.
Und weil es auch ein Gewaltdelikt ist, schließlich kann man sich, und sei man noch so fähig, nicht selbst in so eine Lage bringen, stellt auch die Polizei Fragen. Wann man seinen Mann das letzte Mal gesehen habe.
Mercedes schaut lange in das Gesicht.
Ich hätte bald gesagt: Wenn ich’s mir recht überlege: noch nie. Aber dann sagte sie doch: Das war vor … Bei unserer Scheidung.
Chöre
An einem Samstag vor etwas mehr als vier Jahren kam Abel Nema zu spät zu seiner Hochzeit. Mercedes trug ein schmales schwarzes Kleid mit einem weißen Kragen und einen Strauß weißer Margeriten in der Hand. Er kam wie immer, in zerknitterten schwarzen Klamotten, suchte lange, mit zitternden Fingern nach seinem Identitätsnachweis, es sah so aus, als würde er ihn nicht finden, dann fand er ihn doch, in der Tasche, in der er zuerst nachgesehen hatte. Zur Scheidung, an einem Montag vor…, kam er wieder zu spät, ich habe so was schon geahnt, nach einer Weile weiß man das, schon als noch Zeit genug war, eine Viertelstunde vor dem Termin, als sich Mercedes mit der gemeinsamen Anwältin traf.
Wollen Sie das wirklich? fragte die Anwältin, als sie sie engagierten. Immerhin war er dort einigermaßen
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