Alle Tage: Roman (German Edition)
wär’s von überallher. Das Fenster ist vergittert. Hier werden auch normale Fälle verhandelt. Kriminal fälle. Ich werde nicht durch das Klofenster fliehen können. Mercedes schließt das Fenster. Den Chor hört man immer noch.
Und dann wieder im Flur stehen, da sind auch andere, und, das ist bemerkenswert, alle schauen in dieselbe Richtung, den langen, grünlichen Korridor hinunter. Wie am Bahnsteig steht man da, die Gesichter erwartungsvoll dorthin gewendet, wo bald etwas oder jemand auftauchen müsste: er; man spürt schon die Luft, die er vor sich herschiebt.
Als er dann tatsächlich auftauchte, insgesamt nicht mehr als eine Viertelstunde zu spät, sah er bei weitem nicht so wuchtig aus, wie man aus dem Wind, den er im Vorfeld verursacht hatte, hätte annehmen können. Zwar groß, aber schmächtig, kein Zug, eher ein Semaphor, ein Strich in der Landschaft, wenn man die Augen zusammenkneift, schmilzt er von den Seiten her ein. Von vorne betrachtet sah es so aus, als würde er sich kaum von der Stelle bewegen. Dastehen, warten.
An einem Samstag vor vier Jahren kam Abel Nema zu spät zu seiner Hochzeit. Er sagte, er habe sich etwas verirrt, und lächelte, ich kann nicht sagen, wie. Mercedes lächelte auch und fragte nicht, wieso er nicht ein Taxi hätte nehmen können. Und eventuell etwas anderes anziehen. Der glitzernde Schweiß im offenen Kragen über der zerknitterten Knopfleiste ist das deutlichste Bild, das Mercedes von ihrer Hochzeit geblieben ist. Das und der Geruch, der aufstieg, als er, mitten in der Rede der Standesbeamtin, an keiner bestimmten Stelle, denn es war ohnehin kaum zu verstehen, was sie sagte – Vielleicht könnte man die Rede kürzen oder gar weglassen, sagte Mercedes, um die Zeit aufzuholen, aber die Frau sah sie nur mit blanken Augen an, holte Luft und erzählte einfach alles herunter, was auch immer, Liebe und Gesetz auf der Grundlage bürgerlicher Lebensverhältnisse –, und ich dachte immer nur: ich heirate gerade, ich heirate, als er auf einmal: seufzte. Der Brustkorb, die Schultern stülpten sich hoch und sackten wieder zurück, und dabei stieg ein Schwall auf, ein seltsames Gemisch aus dem Geruch des Sakkos, in dem sich Staub mit Regen verbunden hatte, dem durchgeschwitzten Waschmittelgeruch des Hemds, seiner Haut darunter, seiner Seifen-, Alkohol-, Kaffee- und Talgnoten, und etwas wie Gummi, genauer: Latex, mit einem leichten, synthetischen Vanillearoma, ja, sie glaubte, den Geruch eines Kondoms an ihm wahrzunehmen, plus den Geruch einer in der Hitze eines Dachgeschosses schmelzenden Computertastatur, mit weißen Kreisen im schwarzen Schmutz, dort wo die Finger die Tasten berühren, und so weiter, noch mehr bekannte Gerüche, aber diese sind Nebensache, denn was wirklich wesentlich war in dem Moment, war etwas, was die Braut Mercedes nicht hätte benennen können, das wie ein Wartezimmer roch, wie Holzbänke, Kohleofen, verzogene Schienen, ein in die Böschung geworfener Pappesack mit den Resten von Zement, Salz und Asche auf einer eisigen Straße, Essigbäume, Messinghähne und pechschwarzes Kakaopulver, und überhaupt: Essen, wie sie es noch nie gegessen hat, und so weiter, etwas Endloses, wofür sie gar keine Worte mehr hat, stieg aus ihm hoch, als trüge er ihn in den Taschen: den Geruch der Fremde. Sie roch Fremdheit an ihm.
Ganz überraschend war das nicht. Eine gewisse Aura war schon früher da, schon beim ersten Mal, als er in ihrer Tür stand, ein wenig lächerlich in seinem altmodischen schwarzen Trench, der ihm von der Schulter hing. Der ganze Mensch eine Diagonale, aufgespannt zwischen zwei fernen Ecken des Türrahmens. Damals wusste ich noch nichts damit anzufangen. Jahre später, vor der Standesbeamtin, hat sie dieser Seufzer so in Gedanken gebracht, dass sie erst zu sich kam, als er den Ellbogen einknickte, um ihr einen unauffälligen Stoß in die Seite zu versetzen. Sie sah sich um, aber nicht nach ihm, sondern nach hinten, zu den Stuhlreihen, wo neben Tatjana ihr Sohn Omar saß, als Einzige im leeren Saal, liebes Brautpaar, liebe Gäste. Omars Augen glänzten beide gleich, das etwas größere aus Glas und das lebendige, er war gerade sieben geworden, er nickte: Sag ja. Sag’ jetzt –
Oui, yes, da, da, da, si, si, sim, ita est.
Später kam der Geruch immer häufiger wieder, er war auch nicht mit dem Rasierwasser zu verdecken, das sie von Zeit zu Zeit in der Wohnung verteilte, und am intensivsten dann ganz zum Schluss – daran merkte sie, dass wirklich
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