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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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auf, und wir kletterten hinein. Ich umarmte meine Mutter, weinte, stammelte: »Der Zug wurde … wir ganz allein … abgehängt … die Kurven!« Wir standen in der offenen Zugtür. Unsere Retterin kam angestöckelt. Meine Mutter, die fließend Italienisch spricht, beugte sich hinaus, schüttelte ihre Hände und sagte: »Signora, grazie! Mille grazie! Ha salvato i miei figli. Come posso ringraziarLa?« Sie holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche und gab der Frau alle Banknoten, die sie hatte. Der Schaffner pfiff und der Zug fuhr an. Ich und mein Bruder winkten der Taxifahrerin. Sie winkte zurück und fächelte sich mit den ausgebreiteten Geldscheinen lässig Luft ins Gesicht.
    Völlig fertig saß ich wieder in meinem Sitz. Mein Bruder erzählte detailliert den Hergang unserer Abkoppelung und Odyssee. Da sagte der Sohn meiner Tante, der bis jetzt nur blasiert dreinblickend zugehört hatte: »Mein Gott, Mutter, hörst du das? Wie kann man nur so dumm sein?« Da fuhr meine Mutter ihn an: »Halt deinen Mund, du Klugscheißer. Behalt deine Weisheiten für dich!« Beleidigt verließen meine Tante und ihre beiden Musterkinder das Abteil und blieben bis zur Ankunft im Speisewagen. Meine Mutter setzte sich zwischen uns, legte jedem von uns einen Arm um die Schulter. Mein Bruder und ich sahen uns an. Ich war in diesem Moment so glücklich, dass ich ihn hatte, dass er bei mir gewesen war, so froh, dass er mir gegenübersaß. Ohne ihn wäre ich verloren gewesen. Ich beugte mich über meine Mutter hinweg und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er lachte: »Sag mal, was ist denn mit dir los? Bist du nicht ganz dicht? Hast du das gesehen, Mama, der Kleine da hat mich geküsst!«
    An dieses Abenteuer musste ich denken. So lag ich da. Auf dem Bett meines Bruders.
    Ein Brief von Hazel kam. Sie schrieb mir, wie sehr mich alle vermissen würden und wie traurig sie sei, dass mein Jahr bei ihnen so schnell vorbeigegangen sei. Dann las ich folgende Zeile: »I am so sorry, but Don sold the horse.« Sobald es die Zeitumstellung möglich machte, rief ich sie an. Es war ihr unangenehm und sie sagte: »I tried to prevent it.« Ich fragte sie, an wen Don denn das Pferd verkauft hatte. Hazel druckste herum: »You know, Mr. Spock was quite old!« Ich war entsetzt. Doch es war die bittere Wahrheit. Ich sagte: »How could you let him do that?« Hazel klang hilflos: »It was his horse: I couldn’t do anything about it.« »But I liked this horse! I liked it so much! You knew that!« »I am so sorry. He did it when Stan and I were at work. When we came home in the evening the horse was already gone.« »And what did Stan do?« »Don’t ask! He yelled at Don and said: ›Get out of this house. Do you understand? Get out of my house as soon as possible!‹« Nur drei Tage nach meiner Abreise hatte Don das Pferd weggegeben. Hatte Mr. Spock wahrscheinlich für einen Schleuderpreis an einen Abdecker verhökert. Für so gnadenlos hätte ich ihn nicht gehalten. Von dem Geld hatte er sich auf eine Reise nach Toronto begeben. Was für eine miese und heimtückische Rache! Was für eine Niedertracht. So hatte er mir noch ein letztes Mal klipp und klar zu verstehen gegeben, dass er mich hasste und dass nun wieder er es war, der die Entscheidungen traf.
    Mit meiner deutschen Freundin war plötzlich alles ganz einfach und aufregend. Kein »Eins nach dem anderen!« mehr. Hatte sie so wie ich während meiner Abwesenheit Erfahrungen gesammelt? Wir sprachen nicht darüber. Einmal sagte ich, während wir miteinander schliefen, »Move!« und behauptete später auf ihr Nachfragen hin steif und fest, ich wüsste nicht, wovon sie spräche. »Ich hab es doch gehört. Ich bin doch nicht bescheuert. Du hast ›Move!‹ gerufen.« »So ein Quatsch. Warum soll ich denn bitte schön ›Move!‹ rufen?« »Woher soll ich denn das wissen? Aber gehört habe ich es!« »Vielleicht habe ich Huuove gemacht oder Ahhhhve! Irgendwie gestöhnt halt.« »Na ja, ich weiß nicht. Also für mich klang es wie ›Move!‹.«
    Das Grab meines Bruders hatte ich noch nicht besucht. Meine Eltern waren oft dort. Fragten mich, ob ich denn nicht mitkommen wollte. Der weiße Marmorstein sei sehr schön. Es sei ein friedliches Grab. Doch ich wollte nicht. Maureen und meinen Gasteltern schrieb ich anfangs oft, aber dann immer seltener. Randy Harts Briefe kamen dagegen immer öfter, je weniger ich ihm schrieb. Das hellblaue Gefängnishemd, das ich damals geschenkt bekommen hatte, trug ich ununterbrochen.

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