Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
Vom Netzwerk:
versteht auch nix.« Wir rannten über den Bahnhofsplatz. Ich drehte mich um und sah, dass die rothaarige Taxifahrerin in ihr Auto stieg und losfuhr. Sie hielt vor uns an, winkte uns zu sich: »Venite, ragazzi! Su! Sedetevi!« Wir stiegen ein und mein Bruder rief nach vorne: »Unsere Mama! Im Zug! Unsere Mama! Bitte schnell!« »Ah, Mamma! Mamma, sì, sì! In treno?« Mein Bruder schaltete schnell: »Sì, in treno nach Meran.« Sie rief »Ah, Merano! Va bene, andiamo!« und gab Gas, raste aus dem Ort und durch die Berge. Links ragten steil die Felsen empor, rechts ging es steil bergab. Parallel zur Straße verliefen die Gleise, die sich durchs Tal schlängelten, kamen näher, entfernten sich. Sie fuhr wie eine Besengte die kurvenreiche Bergstraße entlang, setzte sich eine riesige Sonnenbrille auf und hupte vor jeder Kurve. Ich sah zu meinem Bruder hinüber. Er hatte den Mund leicht geöffnet, seine dicken Brillengläser waren leicht beschlagen und, eigenartig, er sah total glücklich aus. Er nickte mir zu und sagte: »Weit können die noch nicht sein!« Die Italienerin trug eine enge rote Bluse mit großen Schweißrändern unter den Achseln. Das sah ich, als sie sich mit gespitzten Lippen die nächste Zigarette aus der Schachtel zog. Wir überholten einen Lastwagen, der uns wie ein Ozeandampfer hinterherhupte. Sie fluchte »Porca miseria! Stronzo!«, drehte sich in voller Fahrt um, ballte zwischen mir und meinem Bruder hindurch die Faust, »Scopato re!«, und drohte Richtung Laster. Und dann tat sie etwas, das mir und meinem Bruder noch Jahre später imponieren sollte. Mitten in dieser wilden Verfolgungsjagd, mitten in einer engen Kurve schaltete sie das Radio an und sang mit. Fluchte, rauchte, sang und gab Gas. Ich hatte Todesangst und war schwer beeindruckt. In engen Serpentinen ging es einen Hang hinauf. »Ich kann die Gleise nicht mehr sehen!«, sagte ich. Wir rasten durch den Wald, und sie rief: »Qua crescono di maroni!« Wieder aus dem Wald hinaus, in einen Tunnel hinein: »Questa galeria di merda!« Wir erreichten eine Ortschaft. Ein Trecker stand quer auf der Fahrbahn. Sie schien sich hier gut auszukennen. Bog in eine Gasse ein, fuhr hinter einem Bauernhof entlang, dass die Hühner gackerten, und kam wieder auf die Hauptstraße. Sie bremste scharf vor einem Bahnhof, stieg aus und stöckelte über den Platz in das Gebäude hinein. Keine zwanzig Sekunden später flog die Tür wieder auf und sie warf sich auf den Sitz: »Merda! Gia partito! Andiamo!« Jetzt war die Straße weniger gewunden, auch etwas breiter. Plötzlich rief mein Bruder: »DA ! DA !« »Was denn?« »Na da! Der Zug!« Er tippte der Taxifahrerin auf die Schulter und zeigte ins Tal hinein: »Da! Treno!« Sie rief: »Mamma? Mamma? C’e dentro la vostra mama?« »Ja, ja genau. Mamma ist im Zug!« Siegessicher griff er mir in den Nacken und beutelte mich. Mir war von der Fahrt schlecht geworden. Die Sorge, die Kurven, der Zigarettenqualm. Ich drehte das Fenster runter und versuchte, meine Übelkeit wegzuatmen. Die Straße mündete in ein breites Tal. Keine zweihundert Meter mehr waren wir hinter dem Zugende. Wir erreichten es, überholten Waggon für Waggon. Sie fing plötzlich an, laut zu hupen, hupte im Takt des italienischen Schlagers. Die Leute sahen aus den Fenstern und winkten, wussten nicht genau, was wir wollten. Da sah mein Bruder den Klaviermusterschüler und seine Flötenschwester: »Da sind sie! Da!« Auf der Höhe des Abteils drosselte sie das Tempo. Der Junge sagte etwas nach hinten in das Abteil hinein. Meine Mutter und die Tante kamen an das Fenster. Mein Bruder winkte, die Fahrerin rief »Ah, Mamma! Mamma!«, hupte lange und winkte. Für einen Moment, mir kam er damals unendlich lang vor, war meine Mutter starr vor Entsetzen. Sie schien schlicht nicht zu glauben, was sie sah: Ihre Söhne in einem hupenden Taxi mit einer rauchenden, singenden Taxifahrerin mit roter Mähne. In diesem langen Moment sah meine Mutter aus wie ein staunendes Kind.
    Meine Tante riss das Fenster herunter. Meine Mutter rief etwas. Doch der Zug und auch wir waren zu schnell, um etwas zu verstehen. Der nächste Bahnhof war noch nicht in Sicht. Kopfschüttelnd stand meine Mutter da und winkte uns. Die Taxifahrerin drückte aufs Gas, ließ den Zug hinter sich, und wir erreichten als Erste den Bahnhof. Wir stürzten aus dem Wagen, ließen alle Türen offen, die Musik an und rannten zum Gleis. Der Zug fuhr ein, mein Bruder zerrte an der Waggontür, sie sprang

Weitere Kostenlose Bücher