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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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fiel etwas ein, das wir zusammen erlebt hatten. Ein richtiges Abenteuer. Ich hatte lange nicht mehr daran gedacht. Wie ich überhaupt während des ganzen Jahres in Amerika selten zurückgeblickt hatte. Meine Gedanken waren monatelang nur nach vorne geprescht. Dankbar hatte ich mich diesem Sog hingegeben, mich aus meiner eigenen Vergangenheit, und letztlich auch aus der Trauer, fortreißen lassen.
    Das Abenteuer war kein wirklich großes, aber ich sah ihn in dieser Erinnerung so genau vor mir wie sonst nur selten. Ich muss zehn, vielleicht elf, und er dreizehn oder vierzehn gewesen sein. Wir waren auf dem Weg zu einem Wanderurlaub in Italien. Meine Mutter, mein mittlerer Bruder und ich saßen auf der einen Seite des Abteils, auf der anderen saß meine Tante mit ihren beiden Kindern, die ungefähr so alt waren wie wir. Das Mädchen zehn, der Junge dreizehn. Diese beiden Kinder habe ich immer beneidet und bewundert. Der Junge spielte Klavier und das Mädchen Geige. Bei jedem Familienfest musizierten sie und alle Verwandten waren begeistert. Es waren adrette, hübsche gebildete Kinder. Der Junge trug weiße Rollkragenpullover, das Mädchen hatte einen Zopf und wickelte sich zum Einschlafen in von allen bewunderter Kunstfertigkeit Bänder und Tücher um die Finger. Sie nannten ihre Mutter, die am Fenster saß, auch nicht Mami oder Mama, sondern »Mutter«. Das fand ich einerseits affektiert, doch andererseits klang es so weltläufig: »Mutter, soll ich dir einen Apfel schälen?« »Mutter, ich gehe kurz auf die Toilette!« »Wasch dir bitte die Hände, ja.« »Selbstverständlich, Mutter.«
    Wir hatten gerade Stadt, Land, Fluss gespielt und der Junge hatte gewonnen, hatte sogar meine und seine Mutter weit hinter sich gelassen. Ich war beleidigt, da ich mehr gewusst hätte, aber einfach nicht so schnell schreiben konnte. Als ich unter der Rubrik Länder bei L »Lappland« vorlas, sagte er: »Hast du das gehört, Mutter: Lappland! Hahahah! Lappland ist doch kein Land. Es ist ein Gebiet und über mehrere Länder verteilt!« Meine Mutter sagte: »Also, ich finde, das gilt. Lappland. Immerhin heißt es ja Land!« »Also«, sagte er, »wenn das so ist, dann gilt ja alles! Dann kann man auch Legoland schreiben!« Seine Mutter lachte ihm anerkennend zu und huldigte so seinem Scharfsinn. Meine Mutter fragte ihn: »Was hast denn du?« »Also ich hab Liberia, Liechtenstein und Luxemburg!« Nachdem die Punkte zusammengezählt waren, genügte es ihm nicht, dass er gewonnen hatte. Jeden Einzelnen fragte er nach seiner Punktzahl. »Also ich bin Erster und du, Mutter, bist Zweite. Du« – er zeigte auf meine Mutter – »bist Dritte. Du« – mein Bruder – »bist Vierter. Du« – seine Schwester – »bist Fünfte! Und du« – er zeigte auf mich –, »du hast nur fünfundfünfzig Punkte! Hahaha! Du bist Letzter!« Mein Bruder kannte meinen Zorn, sagte »Wir gehen ein Stück durch den Zug!«, nahm mich an der Hand und zog mich aus dem Abteil. Während ich die Tür zuschob, hörte ich einen unvergesslichen Satz: »Ach, wie schade, Mutter, dass man ein Klavier nicht mit auf Reisen nehmen kann. Sonst könnte ich jetzt ein wenig üben.«
    Mein Bruder griff mir in die Locken, schüttelte mich liebevoll und sagte: »Lappland ist super, Bruderherz. So ein Blödmann!« Wir gingen von Waggon zu Waggon. Zwischen den einzelnen Wagen explodierte der Lärm. Durch Schlitze im Metallboden konnten wir die dahinrasenden Bahnschwellen sehen. Immer, wenn wir so einen lärmenden Zwischenraum betraten, brüllten wir etwas. Ich rief so laut ich konnte »Laaaaplaaaand!« und mein Bruder »Lavendel! Oleander! Jasmin! Vernel!«. Ganz am Ende des Zuges setzten wir uns vor die verriegelte Schiebetür. Ein italienisches Warnschild hing mit einer Kette über den Haltegriffen, unter einem Ausruf in roten Buchstaben stürzte ein Mann auf die Gleise. Wir drückten unsere Nasen an die Scheibe. »Das sieht doch so aus«, sagte mein Bruder, »als ob die Schienen aus dem Zug herausgeschleudert werden. Stell dir mal einen Zug vor, der so schnell Schienen verlegen könnte!« »Ja, das wäre toll. Da könnte man einfach so wie wir jetzt durch die Berge rattern und hinterher wäre da eine Zugstrecke!« Wir sahen auf den Boden und für einen Moment hatte ich wirklich das Gefühl, in einer Wundermaschine zu sitzen, die mit grandioser Kraft gleichzeitig Schwellen und Schienen in die Landschaft verlegt. Wir saßen nebeneinander, in den Kurven wurden wir aneinandergedrückt,

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