Alle Wege führen nach Rom
der sich in der
Stadt und der Sprache auskannte. Die Mehrheit lenkte ihre Schritte nach Sankt
Peter. Frau Schulrätin schloß sich dem Kaplan an, der seiner Pfarrjugend das
Germanikum zeigen wollte. Keinem Germanisten kann das Goethehaus zu Weimar
teurer sein als einer schwärmerischen Pfarrjugend die Ausbildungsstätte ihres
Kaplans; darum betraten die Jungfrauen und Jünglinge aus dem Kohlenpott nur
flüsternd und scheu die heiligen Hallen. Das kurze Grüßen der Kleriker, die in
tomatenroten Röcken über den Binnenhof liefen, erwiderte die Schulrätin mit
ergebenem Kopfnicken, als wolle sie sich schon jetzt den künftigen Bischöfen
als pflichtbewußtes Diözesankind empfehlen. Außer der fensterlosen Kirche gab
es im Germanikum freilich wenig zu sehen; so bot sich noch genügend Zeit, nach
der Vatikanstadt zu fahren und die Menge der Zweihunderttausend, die auf den
Segen des Heiligen Vaters wartete, auf zweihunderttausendsechsundzwanzig zu
erhöhen. Auf dem weiten Oval des Petersplatzes standen Menschen aller
Hautfarben Kopf an Kopf und spähten durch Sonnenbrillen, Feldstecher oder auch
nur mit den eigenen Augen nach dem Balkon über dem Portal der Basilika. Als
sich endlich die Balkontür bewegte, schlug das nervöse Geraune der Menge in
atemlose Erwartung um. Es war nur die Ruhe vor dem Sturm. Denn sobald sich
zwischen den Prälaten, sie alle um Haupteslänge überragend, die weiße Gestalt
des Heiligen Vaters zeigte, knatterten und feuerten die Südländer aus allen
Rohren der Begeisterung ihr »Evviva!« zum Balkon empor, kurbelten die
Nordländer den Motor ihrer wohlgemeinten Sprechchöre an, hoben Väter ihre
taschentuchschwenkenden Söhne auf die Schulter, wischten sich die Mütter Tränen
von den Wangen — ach, was sollen wir uns eigens Mühe geben, diese Szene neu zu
schildern? Eine ganze Generation von Reportern verwendet alle Ostern genugsam
Stimme und Scharfsinn darauf! Und wem es versagt ist, sie selber zu erleben,
der wird ja doch nur immer ahnen und niemals wissen können, wie ergriffen sich
die Zweihunderttausend unter das Segenskreuz des Heiligen Vaters beugen und wie
stolz sie sind, Kinder der heiligen Kirche zu sein.
Schwester Annaberta kniete nicht unter dieser
glücklichen Menge. Doch wir hoffen, die Flügelschwingen des Segens berührten
auch sie, die noch immer auf der Terrasse des Hospizes ruhte, in wohligem
Halbschlummer mit der Sonne plauderte und den vielen Kuppeln und Campanili die
Namen ihrer Waisenkinder gab. Noch stand der rote Feuerball über Trastevere,
bald wird er über den Janiculus zum Vatikan wandern und sich schließlich
hinterm Monte Mario zur Ruhe begeben. Gino wird wieder Katzen nachschleichen
und keine verlaufene Nonne wird ihn am blutigen Handwerk hindern. O Gino!
Plötzlich sprach sie Herr Birnmoser an: »Nun,
liebe Schwester, schon erholt?«
»Danke sehr, Herr Birnmoser. Wenn es nur der
kleinen Annaberta halb so gut ginge wie mir!«
»Fehlt ihr etwas?«
»Sie schreit nicht. Stumm liegt sie in ihrem
Bettchen und blinzelt nur dann und wann mit den Äuglein. Ihre Lebensgeister
scheinen sehr schwach. Wenn sie nur nicht auf der Heimfahrt stirbt!«
»Deswegen dürfen Sie aber den Kopf nicht hängen
lassen, liebe Schwester. Im rechten, wollt sagen, Unrechten Augenblick fängt
die Kleine sicher zu schreien an: wenn wir nämlich schlafen wollen. Übrigens
möchte ich Sie zum Abendessen einladen.«
»Mich? Das geht nicht, Herr Birnmoser.«
»Sie werden sehen, wie gut das geht.«
»Wenn Sie mich in ein Lokal mitnehmen wollen, muß
ich nein sagen.«
»In ein seriöses Lokal.«
»Lokal bleibt Lokal. Was würde der Monsignore dazu
sagen?«
»Der geht ja auch mit. Außerdem hat Ihre Oberin
Ihnen eingeschärft, in allem der Reiseleitung zu folgen. Zweimal waren Sie
unfolgsam. Wollen Sie es ein drittes Mal riskieren?«
Annaberta entfuhr ein Lächeln. »Sie verstehen Ihr
Handwerk«, sagte sie. »Doch wir fahren ja heute abend schon wieder nach Hause.«
»Erst nach elf Uhr. Bis dahin bleibt viel Zeit.
Fast alle Pilger schwärmen noch einmal aus. Kaplan Schlüter führt seine
Pfarrjugend zu den Wasserspielen nach Tivoli. Die älteren Herrschaften
schwanken noch zwischen der Via Appia und einem Bierhaus bei der Piazza
Colonna.«
»Aber warum soll ich mit Ihnen fortgehen?«
»Um eine Verlobung mitzufeiern«, erwiderte
Birnmoser und blickte dabei so grimmig, als habe er Baldrian geschluckt.
»Wer verlobt sich denn?«
»Fräulein Süß — «
»Und Sie! Dabei haben Sie
Weitere Kostenlose Bücher