Allein die Angst
müssen uns erst mal schnappen«, sagte Suzy wütend, als sie die Schilder sah. Zu lange hatte sie darauf warten müssen, in weiten Schwüngen durch die flachen Wege des Rosengartens zu gleiten, unbehindert von den Buggys und Rollern unserer Kinder. Ich übertrete Vorschriften nur ungern, ließ mich aber breitschlagen.
Ein andermal aßen wir Sandwiches auf dem Trafalgar Square, nachdem wir in der National Gallery Botticellis und Rembrandts bewundert hatten – Suzy staunte, wie viele Museen in London keinen Eintritt kosten. Wir haben durch das Gitter der Downing Street 10 gespäht und uns Big Ben aus nächster Nähe angesehen. Suzy hat mich sogar zum Tower geschleppt und darauf bestanden, den Eintritt zu bezahlen. Als ich zwischen deutschen Touristen Schlange stand, um die Kronjuwelen zu besichtigen, musste ich unwillkürlich lächeln. So etwas hätte ich vor Raes Geburt mit meinen Londoner Freundinnen nie unternommen. Aber Suzy kommt schließlich aus Amerika und nicht wie ich aus Lincolnshire, und sie will die Touristenattraktionen genauso sehen, wie ich damals unbedingt aufs Empire State Building hinauf wollte, an jenem unglaublich schönen Wochenende mit Tom in New York.
Und heute ist der Damen-Badeteich in Hampstead dran. »Wir sollten jeden Tag herkommen«, sagt Suzy, als wir uns wieder anziehen. »Manche machen das.«
Bei solchen Vorschlägen fühle ich mich manchmal wie gerade eben im Teich. Ich rudere wild herum und suche nach etwas Festem, Vertrautem, das mir Halt gibt. Aber ich greife ins Leere.
Es ist 15 : 25 Uhr. In zwölf Minuten ist Suzy in ihrem gelben Käfer-Cabrio von Hampstead Heath quer durch Nordlondon nach Alexandra Park gerast. Vor der Schule bremst sie mit quietschenden Reifen, ohne sich um das Halteverbot zu kümmern.
»Dann saus mal los, Honey«, überbrüllt sie breit näselnd den grauenhaften Ami-Softrock, den sie beim Fahren so gern aufdreht, blind für die Blicke der anderen Mütter, die beim Schultor ein und aus gehen.
Ich lache, obwohl mir der Auftritt peinlich ist, und springe aus dem Auto. Wir sind ein eingespieltes Team. Ich hole Rae und Henry von der Schule ab, sie holt Peter und Otto aus dem Kindergarten. Wir brauchen gar nicht mehr zu reden, lenken uns gegenseitig wie Dressurpferde mit einem leichten Kopfnicken oder Fußkicken durch unsere geteilten Alltagspflichten: Schule, Indoor-Spielanlage, Schwimmbad.
»Ich gehe mit ihnen in den Park«, kündige ich an, bevor ich die Tür zuschlage.
»Tschüsi, bis gleich, Honey«, ruft Suzy fröhlich, winkt mir zu und braust weiter.
Ich drehe mich um zu dem Bogenportal mit der hundertjährigen Inschrift »Mädchenschule«. Unwillkürlich ziehe ich den Kopf ein. Hinter dem Schulgelände erhebt sich wuchtig die massive Mauer des Alexandra Palace, wie eine Flutwelle, die den kleinen viktorianischen Bau aus roten Ziegeln zu verschlingen droht. Ich renne durch das Tor, biege nach rechts in den Bereich für die Erstklässler und lächle den anderen Müttern schmallippig zu. Alle haben mir prophezeit, nach der Geburt meiner Tochter würde ich meine neuen Londoner Nachbarn schnell kennenlernen. Wer so etwas behauptet, muss andere Nachbarn haben als ich. Einige Mütter nicken mir zu und zücken dann wieder ihren obligaten Terminkalender, um untereinander zu verabreden, wann die Kinder zum Spielen kommen. Ich habe so oft darüber nachgedacht, was ich wohl falsch gemacht habe. Vermutlich liegt es daran, dass in der Klassen-Elternliste unter Raes Namen bei »Callie« und »Tom« zwei verschiedene Adressen angegeben sind, anders als bei »Sophie und Jonathan«, »Parminder und David« und »Suzy und Jez«. Suzy tröstet mich: Wenn die anderen Mütter mich unfreundlich behandeln, weil ich eine geschiedene, arbeitslose, zur Miete wohnende Alleinerziehende bin, dann würden sie und Jez eben die Einladungen zu ihren blöden Cocktailpartys in den protzigen Altbauvillen in The Driveway ablehnen. The Driveway ist außer der unseren die einzige Straße, deren Kinder garantiert einen Platz in dieser winzigen Grundschule mit einer einzigen Eingangsklasse bekommen. Das sei eben der Preis, meint Suzy, den wir dafür zahlen müssen, dass unsere Kinder in eine »Nobelgrundschule« gehen dürfen, auf die der Andrang groß ist; die anderen Mütter, die mich ignorieren, seien »eine Herde hochnäsiger Mittelklassezicken« und könnten mir nicht das Wasser reichen.
Ich möchte ihr gern glauben, aber das fällt mir manchmal schwer. Manchmal fände ich es
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