Allein in der Wildnis
Fernsehen gekommen sein. Wie hatten seine Eltern wohl darauf reagiert? Was seine Mutter tat und fühlte, konnte er sich ganz gut vorstellen, er hatte bei ihr gelebt und ihren Alltag geteilt. Bei seinem Vater, hoch in der Arktis, war er noch nie zu Besuch gewesen. Ja, seine Mutter würde am Abend den kleinen Fernseher auf den Küchentisch stellen, die Nachrichten einschalten – und warten. Gewiss hatte sie keine Tränen mehr für ihr Kind. Sie würde den Kopf schütteln über den Konflikt auf dem Balkan, über die Kriege der Menschen überall auf der Welt. Sie würde seufzen über das niedliche Baby aus der Fernsehwerbung …
Oh! Brian riss sich los von den sehnsüchtigen Fantasien, die ihn nach Hause entführen wollten – in eine Geborgenheit, die er verloren hatte. Sein Zuhause war jetzt die Wildnis am See. Hier, wo sein neues Leben angefangen hatte. Wie schön es hier war! Eine fast unvorstellbare Schönheit der Landschaft. Die Sonne entflammte den Himmel. Wie flüssiges Gold tropften die Farben der Abendröte auf den See und die Ufer. Hellrosa glänzte der Wasserspiegel, blutrot leuchteten die Blätter der Bäume. All dies ist so schön!, dachte Brian. Und er wünschte sich, dass jemand bei ihm wäre, mit dem er alles zusammen erleben könnte. »Sieh mal«, würde er sagen, »da drüben. Hast du gesehen …?«
Sogar allein ist es schön hier draußen, dachte Brian, während er Holz nachlegte, um die Kälte der Nacht zu vertreiben. Da war er wieder, dieser frische Hauch der letzten Sommerabende – der erste Vorbote des Herbstes.
Brian schlief ein. Bevor ihn der Traum entführte, ging ihm eine absurde Frage durch den Sinn. Er wusste ja nicht, ob er jemals die Wildnis verlassen würde; er konnte sich nicht vorstellen, wie dies geschehen sollte. Wenn er aber dennoch eines Tages zu Hause wäre und so lebte, wie er gelebt hatte – könnte es dann nicht umgekehrt sein? Würde er dann im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen und plötzlich zurückdenken an den Sonnenuntergang jenseits der Hügel? Würde er noch einmal staunen über die leuchtenden Farben über dem See?
Es war kalt am Morgen, als er erwachte. Sein Atem schwebte in kleinen Dampfwölkchen vor seinem Mund. Er warf Holz ins Feuer und fachte die Flammen an, dann deckte er die Glut ab, damit sie hielt, und ging hinunter zum See.
Jetzt, da die Luft so kühl war, fand er das Wasser warm, als er hineinwatete. Er vergewisserte sich, ob das Beil noch immer an seinem Gürtel hing, ob die Balken des Floßes noch immer fest verbunden waren. Dann stieß er das Floß ins Wasser und schob es, schwimmend und mit den Füßen tretend, zum Flugzeug.
Es war mühsam, genau wie beim letzten Versuch. Einmal, als ihm der Wind entgegenwehte, glaubte er, gar nicht mehr von der Stelle zu kommen. Dann aber war das Heck des Flugzeugs so nah, dass Brian die Nieten in der blanken Aluminiumhülle erkennen konnte.
Zwei Stunden war er schon unterwegs, Wasser tretend und mit den Händen das Floß vorwärtsschiebend. Er war ausgepumpt und wünschte sich nur, er hätte zuerst ein paar Fische zum Frühstück gefangen. Seine Finger und Handflächen waren runzelig geworden, wie Trockenpflaumen, und er sehnte sich nach einer Pause. Jetzt, aus der Nähe, erschien ihm das Heck des Flugzeugs viel größer. Das Seitenruder ragte ein paar Handbreit aus dem Wasser; dazu ein Teil der Höhenruder. Vom Rumpf war nur ein kleines Stück zu sehen, die Oberkante der leicht gewölbten Aluminiumhaut.
Brian sah keine Möglichkeit, sein Floß festzubinden. Als er sich aber schwimmend am Höhenruder weiterzog, fand er am Ende einen Spalt zwischen den Scharnierklappen, wo er sein Seil einfädeln konnte.
So war das Floß befestigt und Brian schwang sich auf die schwankenden Balken. Lange blieb er dort auf dem Rücken liegen und ließ sich von der Sonne wärmen. Die Aufgabe, die vor ihm lag, war beinahe unmöglich. Er musste stark und ausgeruht sein, wenn er Erfolg haben wollte. Irgendwie musste er es schaffen, ins Innere des Flugzeugrumpfes zu gelangen. Doch alle Öffnungen, sogar die kleine Frachtluke am Heck, lagen tief unter Wasser. Anscheinend gab es nur die Möglichkeit, hinunterzutauchen, sich durch ein Fenster zu zwängen und innen wieder hochzutauchen. Dann aber wäre er im Wrack des Flugzeugs gefangen.
Schaudernd erinnerte sich Brian daran, dass vorne im Cockpit noch immer die Leiche des Piloten in den Sitzgurten hing; schwebend im Wasser hing, mit weit aufgerissenen Augen …
Hör auf!, befahl
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