Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Ich kaufe mir ein Ticket, steige in eine kleine Gondel, und los geht’s. Rund fünf Minuten lang gleite ich, von Sphärenklängen begleitet, auf Schienen durch grüne Lasergewitter, rote Magmaexplosionen – durchs «Weltall», das «Paradies» und die «Hölle». Gut möglich, denke ich, dass die Chinesen doch recht haben, wenn sie an den Eingang zum Tunnel, in dem es keine wirklichen Sehenswürdigkeiten gibt, «Sightseeing» schreiben. Vielleicht sind solche virtuellen Welten ja tatsächlich die Zukunft des Reisens, zumal sich die Städte und Landschaften da draußen immer ähnlicher werden.
Bevor es aber so weit ist, werde wenigstens ich noch einmal eine echte Reise machen. Mit allem, was dazugehört: echte Menschen, echte Landschaften, echte Magen-Darm-Probleme – und wie immer mit echt viel zu schwerem Gepäck, nämlich einem Rucksack von gut und gerne fünfzehn Kilo. Das ist heroisch gedacht. Aber auch nach dem Tag auf der Nanjing Lu habe ich keine Ahnung, wie ich die Fünfzehnmillionenmetropole verlassen soll. Dazu kommt, dass mein Aufbruchsdrang umso stärker nachlässt, je länger Carols Tierschutzabend zurückliegt. Es ist eigentlich ganz angenehm in dieser Stadt, Peter hegt und pflegt mich, und immer wenn ich meine Abreise thematisiere, macht er einen neuen tollen Vorschlag, was man unternehmen könnte. Als ich nach einer geschlagenen Woche in der Stadt allmählich unruhig werde, weiß Peter schon wieder einen Event, den ich keinesfalls verpassen darf: «Heute Abend ist eine wichtige Vernissage. Die musst du unbedingt noch gesehen haben.»
Vor Ort beginne ich mich allerdings zu fragen, ob er mich nicht hergeschleppt hat, weil er mich langsam doch loswerden will. Die Ausstellung heißt «Eurasia One», und Anlass ist, so steht’s auf einem Flyer, «der EU-Präsidentschaft-2007-Staatsbesuch von Bundespräsident Horst Köhler in Shanghai». Die Ausstellung wird in einem hübsch ausgebauten Haus aus der Shanghaier Gründerzeit veranstaltet. Das Haus steht auf einem ansonsten völlig abgeräumten Trümmergrundstück in der Nähe des Suzhou Creek, von draußen könnte man glauben, man sei irgendwo in Berlin. Drinnen sieht es auch kaum anders aus. Zwar soll es eine Gemeinschaftsausstellung von achtzehn europäischen und chinesischen Künstlern sein, die Kunstwerke, die den Hauptausstellungsraum dominieren, stammen aber von Rolf, Thomas und Susanne – drei deutschen Künstlern, die in Shanghai leben.
Rolf hat ein Stück Gewebtes und rund dreißig abisolierte Kabel an die Decke gehängt. Dahinter stehen vielleicht fünfzig Lampen auf dem Fußboden. Thomas will genau hundertachtundachtzig Porträtfotos der bedeutendsten zeitgenössischen Shanghaier machen, hat allerdings erst zwölf, die hier an einer Wand hängen. Susanne war mal Model und hat sich wohl deshalb in unterschiedlichen Verkleidungen fotografieren lassen. Auf jedem dieser Fotos hat sie etwas im Mund. Als Nonne eine Oblate, als Braut eine Dollarnote, als Japanerin eine rote Wurst. Als gepierctes, nacktes Sadomaso-Ding schluckt sie einen Aufkleber, auf dem «Sucking» steht. Und damit auch der Letzte versteht, was Susanne meint, trägt sie noch mehr Aufkleber auf ihrem Körper, auf die sie «Plastic surgery», «Pills», «Chanel», «Fuck» und «Money» geschrieben hat. Ja, so springt die böse Welt um mit den armen Frauen.
Von mir aus kann es diese Kunst ruhig geben, auch wenn ich das meiste von dem, was so ausgestellt wird, für überflüssig halte, vor allem weil es so angestrengt wirkt. Ich verstehe nur nicht, weshalb alle deutschen Künstler hier dem Besuch der Frau des deutschen Bundespräsidenten entgegenfiebern. Die hat sich nämlich für heute Abend in der Galerie angesagt; wohl im Rahmen des EU-Präsidentschaft-2007-Staatsbesuch-in-Shanghai-Damenprogramms. Ist man denn nicht gerade deshalb ins große China umgezogen, um der deutschen Enge zu entkommen?
Ist man offensichtlich nicht. Die Künstler amüsieren sich jedenfalls nur so lange prächtig auf ihrer Vernissage, bis sich herumzusprechen beginnt, dass Frau Köhler umdisponiert hat und nicht kommt. Jetzt branden die Wogen der Empörung hoch. Harte Worte wie «Missachtung der Kunst durch die Politik» fallen oder auch «Ignorantin» und «Dafür haben wir uns angestrengt». Gleichzeitig haben die Künstler die Lust an ihrer Ausstellung verloren. Man beschließt, gemeinsam essen zu gehen. Willenlos, wie ich in Shanghai mittlerweile geworden bin, schließe ich mich an und bin selbst
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