Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Der Busfahrer reißt mein Ticket ab und zeigt stumm auf die ausgedruckte Abfahrtszeit. Ich zeige ihm dafür drei große Schlüsselbunde, die herrenlos auf dem Asphalt liegen, nur zwei Meter vom Bus entfernt. Das sind sicher nicht unwichtige Auto-, Bus-und Sicherheitsschlüssel, jeder Bund in einem schönen Lederetui. Irgendjemand ist wegen dieses Verlustes sicher schon in heller Panik. Der Fahrer aber schaut kurz hin, grummelt etwas und winkt ab. Auch etliche Reisende sehen die Schlüssel, und doch tut jeder so, als seien sie nicht vorhanden. Sie denken wahrscheinlich das, was Chinesen in einem solchen Fall meistens denken: Was geht mich das an? Fasse ich die Schlüssel an, bringt das nur Scherereien und möglicherweise richtig Ärger. Erst zwanzig Minuten später kommt eine Straßenfegerin und hebt die Schlüssel auf. Sie ist ja auch fürs Aufheben zuständig.
Pünktlich um neun Uhr setzt sich der Bus in Bewegung. In letzter Minute kommt noch ein etwas fülligerer Mann in den Bus gestürmt. Ich kriege einen Riesenschreck: Der Dicke trägt über dem Herzen den Bundesadler, und es steht fett «Deutschland» auf ihm drauf bzw. auf seinem T-Shirt. Im ersten Moment glaube ich, die deutschen Expattruppen in Shanghai hätten ihn hinter mir hergeschickt, um mich aufzuhalten. Doch dann erkenne ich, dass es sich bei dem Mann nur um einen germanophilen Chinesen handelt. Auch alle anderen Menschen im Bus sind Chinesen, wobei mein Sitznachbar, ein junger Mann, sogar etwas Englisch kann: «Sind Sie guter Stimmung?», fragt er mich. «Sehr guter. Und Sie?» – «Ich auch.» Dann springt der Soundtrack zum Beginn meiner langen Reise an. Es ist ausgerechnet der Titanic-Song, dargeboten von Kenny G., einem nicht unbedingt bei mir, aber in China hoch beliebten Künstler. Ich freue mich trotzdem, denn chinesischer kann meine Reise kaum losgehen.
Der einzige Wermutstropfen: Der Bus nimmt nicht die 318, die die ganzen 5386 Kilometer bis zur nepalesischen Grenze eine Landstraße ist, sondern die parallel verlaufende Autobahn. Das hatte ich fast erwartet. Noch vor ein paar Jahren war die 318 die einzige Straße, die von Shanghai aus direkt nach Westen führte. Doch inzwischen ist der ganze Osten Chinas von einem dichten Autobahnnetz durchzogen. Und natürlich fährt auch in China kein Bus aus Nostalgiegründen auf der Landstraße, wenn man auf der Autobahn schneller vorankommt. Bald sind wir außerhalb von Shanghai, es geht über von Kanälen und Flüssen durchzogenes plattes Land, dazwischen Felder, Reihenhaussiedlungen und Industriegebietsinseln – wie in Holland. Nach knapp zwei Stunden hält der Bus vor den Toren der Altstadt von Xitang.
Tom Cruise war schneller da. Er ließ sich in Shanghai noch ein wenig von Philip Seymour Hoffman foltern, machte dann ein Fenster auf, und schon stand er auf dem Dach eines Hauses mitten in Xitang. So kam er auch um den Eintritt herum, der am Tor zur Altstadt kassiert wird. Das ist in China nichts Ungewöhnliches; für historische Dörfer, irgendwie interessante Berge, ja sogar für Wiesen nimmt man Eintritt. Aber auch ich muss heute nichts bezahlen, denn das Eintrittsgeld ist in meiner Tour enthalten. Allerdings muss ich mir mein Hotel selbst suchen. Kein Agent in der Mission-Impossible-Force-Zentrale lotst mich per GPS und Handy durch die verwinkelten Gassen: Das sind schon mal zwei Unterschiede zwischen Film und Wirklichkeit.
Dafür sieht die Stadt tatsächlich so malerisch aus wie auf der Leinwand. Allein das Hotel, in dem ich fünf Minuten nach meiner Ankunft einchecke, wirkt wie eine Historienfilmkulisse. «Das verehrungswürdige Haus», versichert mir der Hotelprospekt, sei am Ende der Ming-Dynastie – also um 1600 – erbaut worden und soll mir «einen unvergesslichen Eindruck vom Leben in der alten Stadt Xitang vermitteln». Eins weiß ich genau: Garantiert nicht vergessen werde ich mein Zimmer, in dem ein schönes, altes, mit Kattun bespanntes Himmelbett steht und eine Anrichte aus Rosenholz, und dass ich bei der netten, dicken Wirtin den Preis dafür von neunzig auf achtzig Yuan herunterhandele. Damit habe ich zwar nur umgerechnet einen Euro gewonnen, doch darum geht es nicht. Wer Chinese werden oder überhaupt von Chinesen ernst genommen werden will, muss jeden Preis verhandeln. Tut er es nicht, wird er bestenfalls als Trottel belächelt, schlechtestenfalls als Vollidiot verachtet.
Ich bin nicht wenig stolz auf diesen ersten kleinen Sieg und wuchte ächzend meinen schweren Rucksack
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