Aller Anfang ist Mord
der meinen Blick jetzt mit weit aufgerissenen Augen erwidert.
„Und kannst du dich an das alles erinnern?“, frage ich. „Oder hast du dir die Erinnerungen in Afrika von der Sonne aus dem Kopf brennen lassen?“
Saalfeld schüttelt sehr langsam den Kopf, trotzdem fahre ich fort: „Hier kannst du es nachlesen, die ganze, verdammte Geschichte steht hier drin.“ Ich schlage Hubers Album auf, das ich aus seinem Zimmer mitgenommen habe. Blättere weit nach hinten zu den Zeitungsberichten, greife einen heraus.
„Kindergarten bei Sommerfest eingestürzt“, lese ich vor, schwenke den Ausschnitt dann vor Saalfelds Gesicht, halte ihn einige Sekunden ruhig, damit er das Foto auf dem vergilbten Papier erkennen kann. Das Foto mit dem eingestürzten Dach und den herumliegenden Mauerresten.
„Drei Frauen und vier Kinder starben“, lese ich weiter. „Das Sommerfest hatte sich bis in den Abend gezogen. Einige Frauen legten die Kinder im Ruheraum schlafen. In diesem Moment zog ein schweres Gewitter auf und ging mit Starkregen über der Gegend nieder. Die Männer, die übrigen Frauen und die größeren Kinder brachten sich in dem aufgestellten Bierzelt in Sicherheit.“
„Hör auf!“ Homann unterbricht mich. „Ich will das nicht hören.“
„Doch, das müssen wir jetzt zu Ende bringen. Alles muss noch einmal auf den Tisch.“ Während ich das sage, spüre ich die ersten Schmerzwellen in meinem Kopf. Bitte, nicht jetzt, denke ich, dann lese ich halblaut weiter vor: „Aus noch ungeklärter Ursache brach während des starken Regens eine tragende Wand ein und riss die Dachkonstruktion mit sich. Einsatzkräfte, die aus allen umliegenden Gemeinden anberaumt wurden, arbeiteten unter Hochdruck die ganze Nacht lang. Trotzdem konnte nur eine junge Frau und zwei Kinder lebend geborgen werden.“
Ich mache eine kurze Pause, atme gegen den Schmerz tief ein und aus, dann füge ich, ohne abzulesen, hinzu: „Es waren 35 Feuerwehrmänner, 20 Rettungssanitäter und Ärzte, sowie 10 Männer vom Technischen Hilfswerk im Einsatz.“
Grulich schaut mich überrascht an. „Wo hast du denn diesen letzten Absatz her? Das steht doch so gar nicht in dem Artikel.“
Ich ignoriere den Einwand und greife nach dem nächsten Bericht aus Hubers Album. „Bürgermeister unter Verdacht“, lese ich, überspringe dann die einleitenden Zeilen. „Der Kindergarten war zwei Jahre vor dem Unglück fertig gestellt worden. Wie erste Befunde ergeben haben, wurde das Gebäude auf dem Fundament eines alten Bauernhauses errichtet. Die Arbeiten wurden damals von der Baufirma des jetzigen Bürgermeisters Saalfeld durchgeführt. Die Regenmassen am Tag des Unglücks waren aktuellen Einschätzungen zufolge nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Setzungen und Risse hatten sich nach Zeugenberichten schon lange vorher gezeigt und waren dem Bürgermeister gemeldet worden.“
Saalfeld versucht zu sprechen. Ich sehe, wie sich seine Lippen hastig bewegen, sich die Sehnen an seinem Hals spannen. Ich trete einen Schritt vor und beuge mich über ihn. Er strengt sich an, ich spüre den warmen Atem, der in meiner Ohrmuschel kitzelt, höre aber nur ein leises Pfeifen, das tief aus seiner Lunge zu kommen scheint.
Die Waffe hochziehen, denke ich. In seinen Mund schieben und abdrücken, bis das Pfeifen aufhört. Dann denke ich an den anderen Ort, den gewaltigen Blitz, an mein brennendes Haus, die Schreie von mir und Mathilde, die gewaltige Hitze. Ich spüre, wie diese Bilder wieder in meinen Kopf drängen, doch ich muss mich konzentrieren. Ja, Huber, ich habe es dir versprochen. Ich atme tief ein, versuche die Erinnerung in den Hintergrund zu schieben.
Als ich mich wieder aufrichte, sehe ich eine Träne in Saalfelds Auge. Das glaube ich dir ganz sicher nicht, denke ich.
Saalfeld macht eine unbeholfene Bewegung mit dem Kinn. „Ich glaube, er möchte uns etwas zeigen“, sagt Grulich, steht auf und deutet auf die Schublade des Schreibtisches. Saalfeld nickt.
Grulich öffnet die Schublade, kramt einen Augenblick, zieht dann einen kleinen Stapel Papier hervor. Er liest, schiebt sich die Brille auf die Stirn und hält sich die Schriftstücke dicht vor die Augen. „Was …“, entfährt es ihm.
Ich sehe, wie seine Hände zittern, während er weiterblättert. Auf dem nächsten Papier studiert er wiederum einige Passagen, dann lässt er die Blätter sinken, blickt in die Runde. Mit der freien Hand fährt er sich mehrfach über sein Gesicht, wendet sich dann an
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