Wahnsinn, der das Herz zerfrisst
1851
»Ich lache dann und wann, um nicht zu weinen,
Und weine, weil der Mensch nicht Tag für Tag
Sich zwingen kann, in Stumpfsinn zu versteinen;
Erst muß in Lethes Strom des Herzens Schlag
Stillstehen, eh der Friede wird erscheinen…«
Don Juan
Zehn Tage vor ihrem Tod reiste Augusta Leigh mit dem Zug nach Brighton, um ihre Schwägerin Annabella zu besuchen.
Augustas Tochter Emily, die dieses Zusammentreffen arrangiert hatte, stand dem Unternehmen mit großer Skepsis gegenüber.
»Hältst du es wirklich für vernünftig, Mamée?« fragte sie, während sie ihre Mutter zum Bahnhof brachte. »Ich meine, glaubst du nicht, daß sie noch immer… noch immer…« Es war weder Emilys Art, ihre Sätze unvollendet zu lassen, noch hegte sie für gewöhnlich Zweifel an Dingen, die sie selbst eingefädelt hatte, so daß Augusta das Ausmaß ihrer Befürchtungen erkennen konnte. »Aber nein«, erwiderte sie lachend und küßte ihre Tochter auf die Wange. »Wir sind ganz einfach zwei alte Damen, die sich lange nicht gesehen haben. O dear, wir kommen zu spät, Emily. Beeilen wir uns ein bißchen.«
Augusta heuchelte Zuversicht, die sie nicht ganz empfand, doch sie war schon immer der Ansicht gewesen, unausweichliche Probleme sollte man erst dann fürchten, wenn man ihnen direkt gegenüberstand. Wozu sich unnötig den Kopf zerbrechen und das Leben schwermachen? Sie hatte vor, diese Fahrt mit der neumodischen Dampflokomotive - ein Abenteuer, das sie noch nie mitgemacht hatte - zu genießen, auch wenn sie ein wenig Angst davor hatte. Die Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie von Liverpool nach Manchester lag zwar nun schon über zwanzig Jahre zurück, das leicht Bedrohliche und Spekulative hing dem neuen Transportmittel jedoch immer noch an. »Wenn die Menschen dazu gemacht wären, durch das Land zu rasen wie wildgewordene Bullen«, hatte Augusta seinerzeit zu ihrem mittleren Sohn Frederick gesagt, als Stevensons Modell zum allgemeinen Gesprächsthema wurde, »dann besäßen sie Flügel.« Nichtsdestoweniger war sie sehr neugierig.
In dem Abteil, in das sie Emily fürsorglich noch begleitete, befand sich zur Zeit kein weiterer Reisender, wie Augusta etwas erleichtert feststellte; denn in den Sechsundsechzig Jahren ihres Lebens hatte sie ihre ungewöhnliche Scheu vor Fremden nie ganz verloren. Außerdem konnte sie so ihre erste Fahrt mit dieser seltsamen Maschine erleben, ohne beobachtet zu werden.
Sie verabschiedete Emily mit einem Augenzwinkern und dachte dabei liebevoll, daß das arme Kind bisher nicht viel vom Leben gehabt hatte. Emily war - mit Ausnahme ihrer wahnsinnigen Schwester - das einzige von Augustas sieben Kindern, das niemals Geld für Kleider, Würfelspiel oder die wechselnden Modetorheiten beansprucht hatte. Auf diese Art sah man sie als
»Stütze der Familie« und den »einzigen Trost der guten Augusta« an und bedachte sie überreichlich mit Mitleid, das eine Spur von Verächtlichkeit in sich trug.
Emilys ein wenig trockene und scharfzüngige Art schreckte Freier immer wieder ab, und die familiären Umstände taten ein übriges. Doch eines Tages würde Emily sicher aus dem Schatten ihrer älteren Schwestern treten, so daß dann ihre wahren Qualitäten zur Geltung kämen, die fröhliche Uneigennützigkeit, die sie nie in Selbstmitleid verfallen ließ. Ihr lag es nicht, sich in Grübeleien zu versenken, selbst jetzt nicht, obwohl sie wußte, daß die gesamten Sorgen der Familie Leigh bald auf ihren Schultern ruhen würden.
Augusta seufzte. Von Annabella würde sie keine finanzielle Hilfe erwarten können. Ihre Schwägerin hatte in ihrer gebieterischen Art ausdrücklich geschrieben, daß es über eine Unterredung hinaus keine weiteren Hoffnungen für Augusta geben dürfe. Nun, es ging ihr diesmal auch um etwas völlig anderes. Immerhin ließ sich so der jahrzehntelange alberne Streit beilegen, und darauf kam es in der Hauptsache an. Bell…
Sie wandte den Kopf und blickte aus dem Fenster, entschlossen, weitere trübe Gedanken bis nach ihrer Ankunft in Brighton zu verschieben. Es nieselte, und die winzigen silbrigen Tropfen in solcher Geschwindigkeit vorbeifliegen zu sehen, bereitete ihr ein kindliches Vergnügen» Sie wünschte nur, sie wäre noch Jung genug, in diesem Herbstwetter ausreiten zu können, um die erlesene prickelnde Feuchtigkeit auf der Haut zu spüren.
Augusta fiel ein, wie ihr Bruder ihr einmal geschrieben hatte:
»Du meinst, es sei Herbst; ich würde gerne wissen, wie Du
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