Aller Heiligen Fluch
mehr da ist. Ich denke ständig, gleich kommt er herein.»
«Das ist sehr schwer, ich weiß», sagt Judy. Empathisches Echo nennt das die Fachliteratur.
«Ich fühle mich einfach so furchtbar …»
Es muss schrecklich sein, den Vater zu verlieren, denkt Judy, egal, wie alt man ist. Sie kann nur hoffen, dass Caroline Trost bei ihrer Familie findet, doch irgendwie bezweifelt sie das.
«Die Überwachungsbänder?», fragt sie sanft.
«Ach so, ja …» Caroline lächelt zittrig. Sie schaut immer wieder zur Tür, was Judy ein wenig nervös macht. «Hier entlang.»
Das Zimmer gleich neben der Haustür ist voll mit Bildschirmen. Fünf Kameras sind über das ganze Gelände verteilt: eine direkt am Haupttor, eine vor dem Torbogen zum Haus, eine, die den Hof überwacht, und eine am Hintereingang, «wo das alte Herrenhaus stand», wie Caroline erläutert.
Judy macht es sich mit den Bändern bequem und akzeptiert gerne den angebotenen Kaffee. Die Bänder von gestern Abend, hat der Boss gesagt. Sie fängt um acht Uhr an. Stundenlange Nachtsichtaufnahmen menschenleerer Auffahrten. Abwechslung gibt es nur, wenn Kater Lester auftaucht, den Weg entlangtrippelt oder sich auf dem verlassenen Hof putzt. Hin und wieder schaut ein Pferdekopf aus einer Stalltür, doch die meiste Zeit ist Lester das einzige Lebewesen weit und breit. Das Bild verschwimmt Judy vor den Augen. Sie trinkt ihren kalten Kaffee. Draußen hört sie einen Wagen vorfahren, dann Stimmen. Das muss wohl die vielbeschworene Tamsin sein. Sie hört, wie eine Frau sehr laut und arrogant sagt: «Herrgott noch mal, Randolph, kannst du nicht ein bisschen Respekt zeigen!» Familienidyll.
Sie spult auf zehn Uhr vor. Um zwanzig Minuten nach Mitternacht wird es bei der Kamera vor dem Haus interessant. Ein Wagen fährt vor, und ein Mann steigt aus. Er hat eine Tasche bei sich, woraus Judy schließt, dass es wohl der Arzt sein muss. Die Haustür wird geöffnet, er geht hinein. Ein paar Minuten später hält ein Sportwagen mit quietschenden Reifen vor dem Haus. Ein Porsche, denkt Judy. Sie schwärmt mindestens so sehr für Autos wie für Pferde. Irgendwo in ihr muss ein kleiner Tempo-Teufel sitzen, der nach Ausdruck verlangt. Auch aus diesem Wagen steigt ein Mann. Sie kann sein Gesicht nicht erkennen, aber es muss wohl der Sohn sein. Wie heißt der noch gleich? Randolph. Den Len Harris als «zu nichts nutze» beschreibt. Der ein bisschen Respekt zeigen soll. Nach weiteren zehn Minuten kommt ein Krankenwagen durch das Tor. Lichter gehen an, Schritte sind zu hören, allgemeine Hektik bricht aus. Jemand wird auf einer Trage nach draußen gebracht. Eine Frau steigt mit in den Krankenwagen, der Mann mit dem Porsche fährt hinterher. Dann schließt sich das Tor hinter ihnen, und Judy sieht wieder nur den leeren Hof und Lester. Wo war Caroline in dem ganzen Aufruhr? Weitere Aufnahmen schweigender Ställe. Wonach sucht sie eigentlich noch? Der Boss schien sich selbst nicht ganz sicher zu sein, ob Danforth Smiths Tod überhaupt verdächtig ist. Glaubt er wirklich, dass sich jemand hier hereingeschlichen und einen vergifteten Pfeil auf ihn abgeschossen hat oder so was? Er wird wohl noch wunderlich auf seine alten Tage. Das wird sie ihm sagen, sobald sie wieder im Revier ist. Oder auch nicht.
Weitere leere Auffahrten. Eine Eule schreit. Lester schleicht durchs hohe Gras. Eine Uhr schlägt. Und dann – großer Gott! Das Haupttor öffnet sich, und ein Mann kommt herein.
Judy sieht genauer hin. «Meine Fresse!», sagt sie laut. «Das darf doch nicht wahr sein!»
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15
Obwohl Ruth schon seit dreizehn Jahren in Norfolk lebt, ist sie noch nie in der Kathedrale von Norwich gewesen. So etwas macht man eher als Tourist, und außerdem mag sie im Grunde einfach keine Kirchen, auch wenn sie eine heimliche Vorliebe für die riesigen katholischen Bauwerke hegt, die mit mannigfaltigen Darstellungen des Jüngsten Gerichts geschmückt sind. Obwohl sie also schon oft in den umliegenden Straßen einkaufen war, vor allem in der Buchhandlung mit dem sprechenden Namen Tombland, und den Turm der Kathedrale zwischen den Dächern aufragen sah wie eine mittelalterliche Weltraumrakete, betritt sie das Gebäude selbst jetzt zum ersten Mal.
Sie überqueren den gepflegten Rasen des Kirchhofs. Janet Meadows scheint sich kein bisschen um Schilder mit der Aufschrift «Betreten verboten» zu scheren. Am Haupteingang zeigt sie Ruth zwei moderne Skulpturen, die das Portal flankieren: einen
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