Aller Heiligen Fluch
zusammengekniffenen Augen schaut Ruth zum Gesicht der Statue empor. Es ist auffallend schön, doch wahrscheinlich wird bei solchen Darstellungen immer idealisiert. Unter der offiziellen Kopfbedeckung quellen schulterlange Locken hervor.
«Er könnte schon eine Frau sein», sagt sie.
«Die Haare beweisen gar nichts», meint Janet. «Denken Sie nur an die ganze Aufregung um den Jünger Johannes aus dem
Letzten Abendmahl
, von dem es immer hieß, er müsse eine Frau sein, weil er so schön ist und so langes, wallendes Haar hat. Dabei hat da Vinci einfach gern schöne Männer gemalt.»
Ruth denkt an den Roman
Sakrileg
, der ihr wider Erwarten durchaus gefallen hat. Gibt es hier einen versteckten Hinweis? Übersieht sie vielleicht etwas? Ein Sarg, eine Schlange und ein Schuh. Eine Einsiedlerin und ein Bischof, ein Mann, der an zwei Orten gleichzeitig sein konnte. In Gedanken versunken geht sie weiter. Kurze Zeit später ruft Janet sie zurück. Sie steht vor einer Art Kapelle: ein kleiner Altar mit ein paar Bänken ringsherum. Buntglasfenster werfen blaue, grüne und goldene Farbtupfer auf den Stein.
Janet deutet zu einem der Fenster hinauf.
«Sehen Sie. Da haben wir Juliana noch einmal.»
Ruth blickt hinauf und erkennt in dem bunten Glas eine Frau in Nonnentracht und einem überraschend hochherrschaftlichen roten Umhang. Weit mehr allerdings fesselt sie das Wesen zu Julianas Füßen.
«Eine Katze!», ruft sie begeistert.
«Tatsächlich», sagt Janet. «Die ist mir noch nie aufgefallen.»
Doch Ruth spürt eine neue Nähe zu dieser frommen Frau aus dem 14 . Jahrhundert. Denn Juliana besaß offensichtlich eine Katze. Einen großen rotgetigerten Kater, so wie Flint. Ruth ist überzeugt, dass Juliana sehr an ihrem Haustier gehangen haben muss, denn warum hätte man sich sonst die Mühe machen sollen, es in gelbem und orangefarbenem Glas zu verewigen? Und was soll man gegen einen Menschen sagen, der seine Katze so sehr liebt?
Sie will das alles gerade formulieren, da klingelt ihr Handy. Janet grinst, doch Ruth ist es ausgesprochen peinlich.
Es ist Cathbad. Das wird langsam zur Gewohnheit.
«Kannst du bitte kommen, Ruth? Ich bin verhaftet worden.»
«Brauche ich jetzt einen Anwalt?»
«Halt die Klappe, Cathbad. Das ist eine ernste Sache.»
Cathbad setzt pflichtschuldigst eine ernste Miene auf. Judy funkelt ihn an. Sie sind in Zimmer 1 , dem größeren der beiden Verhörzimmer, doch es erscheint ihr mit einem Mal viel zu klein. Sie nimmt Cathbads Hände überdeutlich wahr, die langen Finger, die leicht auf der Stuhllehne trommeln. Er trägt ein Lederarmband ums Handgelenk, wie man es oft bei Surfern sieht. Keine Uhr. Einmal hat er ihr erzählt, dass Zeit für ihn keine Bedeutung hat.
«Du warst gestern Nacht in Slaughter Hill. Ich habe dich auf dem Überwachungsband gesehen.»
Cathbad lächelt geheimnisvoll, und Judy explodiert. «Kapierst du denn nicht, wie das aussieht? Was in aller Welt hast du um ein Uhr morgens in Slaughter Hill zu suchen?»
«Ich habe eine Freundin besucht.»
«Wen?»
«Caroline Smith.»
«Das muss ja eine sehr gute Freundin sein», bemerkt Judy frostig, «wenn du sie um ein Uhr früh besuchst.»
Sie denkt an die verweinte Frau zurück, die sie am Vormittag kennengelernt hat. Unter normalen Umständen ist Caroline vielleicht sogar ganz attraktiv. Ob Cathbad das auch findet?
«Ich war bei Ruth», sagt Cathbad. «Gegen Mitternacht bin ich gegangen. Und weil ich nachts gern spazieren gehe, dachte ich mir, ich schaue noch bei Caroline vorbei.»
«Du bist vom Salzmoor bis nach Slaughter Hill gelaufen?»
«Bis Snettisham bin ich gefahren worden.»
«Von wem?»
«Von einem Freund namens Bob Woonunga.»
Wieder so ein komischer Name, denkt Judy giftig. Warum kann Cathbad eigentlich keine normalen Freunde haben? Und warum muss er mitten in der Nacht durch die Gegend laufen und Frauen besuchen?
«Kommen wir wieder zu Caroline Smith», sagt sie. «Hat sie dich erwartet?»
«Ich hatte gesagt, ich käme eventuell noch vorbei.»
«Warum?», fragt Judy. Wenn Cathbad tatsächlich eine Affäre mit Caroline hat, dann will sie ihn das sagen hören.
Cathbad mustert sie, und dabei spielt ein Lächeln um seine Lippen. Judy würde ihn am liebsten ohrfeigen.
«Es ist nichts zwischen uns», sagt er sanft. «Wir sind befreundet, nichts weiter. Sie gehört auch zu den Elginisten. Deswegen wollte ich sie besuchen.»
«Du hast also einfach mal vorbeigeschaut, um über Aborigine-Knochen zu
Weitere Kostenlose Bücher