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Aller Heiligen Fluch

Aller Heiligen Fluch

Titel: Aller Heiligen Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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noch einmal.
    Michelle rauscht zur Tür. «Leb wohl, Ruth. Ich hoffe, du fühlst dich nicht allzu schuldig.»
    Eine vergebliche Hoffnung. Noch während das Motorengeräusch von Michelles Wagen im Dunkeln verklingt, fragt sich Ruth, ob es wohl möglich ist, an Schuldgefühlen zu sterben.

[zur Inhaltsübersicht]
    25
    Ruth ist erleichtert, als es endlich Morgen wird. Sie kann die ganze Nacht nicht mehr als ein paar Minuten geschlafen haben. Doch diese wenigen Minuten waren mehr als ausreichend für schreckliche Träume: Nelson, der ertrinkt und ihr verzweifelt die Hand entgegenstreckt, Eriks Stimme, die vom Meer her nach ihr ruft, Cathbad, der sich in eine Schlange verwandelt und zischelnd fragt: «Schläfst du, Dreiäuglein?» Und Kate, immer wieder Kate: Kate, glühend vor Fieber, Kate tot in ihrem Bettchen, Kate im Dunkeln verirrt, auf der Suche nach ihr. Als Kates energisches Geschrei sie um sechs weckt, ist Ruth heilfroh, aufstehen zu dürfen. Sie duscht mit Kate auf dem Arm und geht dann nach unten, um den Tag zu beginnen. Sie ist so müde, dass sie glaubt, mit den Füßen in der Erde zu stecken und sie mit jedem Schritt entwurzeln zu müssen. Ein Kaffee versorgt sie kurzfristig mit genügend Energie, dass sie ihren Rucksack und Kates Windeltasche packen und ins Auto steigen kann, doch als sie bei Sandra ankommt, schwappen schon wieder gewaltige Wellen von Müdigkeit über sie hinweg.
    «Sie sehen aber gar nicht gut aus», bemerkt Sandra. «Kriegen Sie die Grippe?»
    Die Grippe. Aus Sandras Mund hört sich krank sein so normal an, eine lästige Störung, die man in den Griff kriegen und überwinden muss. Doch für Ruth ist schon das kleinste Schniefen von Kate ein Vorbote des nahen Todes. Warum empfindet sie das bloß so? Liegt es daran, dass ihre Eltern jeden Glauben an die moderne Medizin verloren haben, seit sie zu Gott gefunden haben? «Gott wird es richten», so lautet ihr neuer Glaubenssatz. Ruth macht ihren Eltern erbitterte Vorwürfe, weil sie sie nicht gegen Masern haben impfen lassen und sie deshalb während ihres Studiums ein paar albtraumhafte Wochen durchlebt hat. Auch die Phantasie ihrer Eltern ist merklich von Weltuntergangsszenarien geprägt, in ihren Unterhaltungen geht es ständig um den Tod, das Jüngste Gericht, den Himmel und die Hölle. Auch der Teufel ist ein häufiger Bezugspunkt. Ob es daran liegt, dass Ruth manchmal hinter jeder Ecke grauenvolle Katastrophen vermutet? Oder ist es einfach nur ganz normaler Verfolgungswahn?
    Die erste Vorlesung und ihr Tutorium übersteht sie mit Hilfe von noch mehr Kaffee, doch gegen Mittag schwächelt sie erneut. Sie hat ihre eigene eiserne Regel gebrochen und während der Veranstaltung das Handy angelassen. Jeden Moment rechnet sie damit, Judy sagen zu hören: «Es tut mir leid …» Vielleicht ruft sie aber auch gar nicht an. Vielleicht schickt sie ja einfach nur eine SMS :
N tot :-(
. Vielleicht macht sich aber auch niemand die Mühe, ihr Bescheid zu sagen, und sie wird sich durch diesen und den nächsten Tag quälen müssen, ohne zu wissen, ob Nelson lebt oder tot ist. Sie holt sich ein Sandwich aus der Cafeteria, bringt dann aber keinen Bissen davon hinunter. Sie sitzt einfach nur am Schreibtisch und betrachtet das Poster von Harrison Ford, dem Pin-up-Boy für Archäologen. Fast fühlt sie sich selbst wie in einem Indiana-Jones-Film, versucht verzweifelt, Fallen und Hindernissen auszuweichen, und jede neue Hürde ist nur noch perfider und ausgeklügelter als die vorherige. Soll sie Nelson besuchen? Auf einer Ebene hat ihre Angst etwas Irrationales. Kate kann sich ebenso gut bei Sandra mit einem Virus anstecken oder im Wartezimmer beim Arzt oder auf einem der Indoor-Spielplätze, auf die Ruth an regnerischen Samstagnachmittagen manchmal zurückgreift. Aber es wäre etwas völlig anderes, wenn Ruth die Ansteckung verschuldet, wenn sie selbst ihr Kind der Gefahr aussetzt, so wie Abraham, der Isaak zum Opferaltar führt. Zum Teufel mit ihren Eltern und ihren Bibelgeschichten! Sie lässt den Kopf auf den Schreibtisch sinken.
    «Ruth!»
    Ruth fährt wieder hoch. Cathbad steht vor ihr.
    «Ich habe es eben gehört», sagt er.
    Wie Michelle – geradezu erschreckend so wie Michelle – wirkt auch Cathbad wie vor den Kopf gestoßen, als hätte er gerade einen Autounfall hinter sich. Zusammen mit der Tatsache, dass er Alltagskleidung trägt, lässt ihn das förmlich schrumpfen. Cathbad ist nicht besonders groß, beherrscht aber normalerweise jeden Raum, den

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