Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Strohdach das nun verlassene Haus ganz niederdrücken, es in die Erde hineindrücken und so lange zudecken, bis es verwest war.
Hier, in der Wohnung ihrer Tochter, sind, seit der Goj mit der Mitgift der Enkelin durchgebrannt ist, Teppiche, Tischdecken und chinesisches Porzellan längst verkauft, aber die Wohnung hält ihre Tochter noch – die Dielen sind aus blankgelaufener Eiche, die Türklinken aus Messing, das Licht fällt durch gläserne Fenster. Allmorgendlich geht die Alte mit einer Gänsefeder durch alle Zimmer und wischt damit den Staub, der auf den wenigen Möbeln liegt, fort, dann legt sie die Schürze ab und setzt sich aufs Kanapee, um in der Tora zu lesen. Wende und wühle in ihr, denn in ihr ist alles, schaue in sie und werde in ihr alt und verbraucht, und weiche nicht von ihr, denn es gibt nichts Besseres als sie. Die einzige Mitgift, die sie und ihr Mann der Tochter bei der Heirat mit dem wohlhabenden Kaufmannssohn hatten mit auf den Weg geben können, war die Leidenschaft für das Studium der Heiligen Bücher gewesen. Nächtelang hatten die beiden jungen Leute, nachdem die Kleine zu Bett gebracht war, mit den beiden Alten darüber diskutiert, ob das Reich Gottes in Wahrheit schon hier auf der Erde zu finden sei, wenn man nur den Blick dafür habe, ob also vielleicht mitten unter den Menschen das Rätsel des Lebens versteckt sei, oder doch erst im Jenseits. Ob es grundsätzlich zwei Welten gebe oder nur eine. Nur durch ein Leben in Heiligkeit könne es dem Menschen gelingen, das, was zerfallen ist, die kommende Welt mit der irdischen, zu verbinden, hatte ihr Mann gemeint. Was denn aber ein Leben in Heiligkeit sei, hatte der Schwiegersohn ihn darauf gefragt, alles sei doch nur eine Frage der Auslegung der Heiligen Schrift durch den Menschen – irre der Mensch, verirre sich auch sein Streben nach dem richtigen Leben. Ja, hatte die Tochter gemeint, alles, was dem Menschen in der Tat auf Erden widerfahre, müsse man lesen, es gehe nicht allein um das, was in der Heiligen Schrift steht. Sie selbst hatte an diesen Abenden an das ewige Leben auf Erden geglaubt, denn sie sah es ja vor sich: sich selbst und den Alten, die Tochter mit ihrem Mann, und das neugeborene, winzige Mädchen, das, den Kopf nach hinten in den Nacken gelegt, fest schlief. Nachdem man der Tochter aber den Mann erschlagen hatte, gab es keine solchen Gespräche mehr, die Tochter hatte das Ghetto verlassen und ihr Mädchen, als es herangewachsen war, einem Goj zur Heirat gegeben. Nun war der Goj wieder fort, die Enkelin wohnte wieder, wie in der Kindheit, mit der Mutter zusammen, und wenn die Mutter nicht da war, sorgte die Großmutter für sie, so wie früher. Ein Menschenleben war also lang genug, um eine Flucht zu vereiteln.
Wenn es Abend wird, legt die Alte das Buch beiseite und streift die Schürze wieder über. Gibt es Fleisch, beginnt das Kochen damit, dass sie hinuntergeht auf den Hof und das scharfe Messer, mit dem sie das Fleisch schneiden will, reinigt, indem sie es in die Erde steckt und wieder herauszieht, denn in diesem Haushalt kann man sich nicht darauf verlassen, dass außer ihr jemand die vorgeschriebene Trennung der Geschirre und Geräte einhält. Das Böcklein soll aber nun einmal nicht in der Milch seiner Mutter gekocht sein.
15
A uf Ellis Island, einer winzigen Insel in Sichtweite von Manhattan, werden die Ankömmlinge auf ihre Eignung für das Leben in Freiheit geprüft. Es werden ihre Augen geprüft, ihre Lungen, ihre Hälser, ihre Hände und schließlich der ganze entblößte Leib, Männer und Frauen getrennt voneinander, Kinder von ihren Eltern getrennt.
Bei der Augenuntersuchung gib acht, wenn der mit dem Haken kommt!
Warum?
Da kann es passieren, dass dein Auge herausfällt.
Ganz sicher?
Ja, ein Mann hat mir’s erzählt, dem ist sein Auge dabei in die Jackentasche gefallen.
Als er an der Reihe ist, wird er im Untersuchungszimmer aufgefordert, sich ganz und gar zu entkleiden. Auf Englisch versteht er die Aufforderung nicht, aber auch, als ein Dolmetscher sie für ihn übersetzt, rührt er sich nicht. Hatten die Amerikaner etwa ganz und gar den Verstand verloren? Oder glaubten sie wirklich, bei der Einreise in ihr Land handle es sich um eine zweite Geburt? Seine Prüfung damals an der Technischen Hochschule in Wien, die sicher nicht leicht war, war anders gegangen.
Come on. Beeilung.
Es hilft nichts: Nackter, als er jemals vor seiner Frau stand, muss er sich in Gottes Namen jetzt unter das Licht stellen
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