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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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widersetzliches Verhalten und vielleicht nicht einmal mehr den Tod?
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    S o also war das, wenn man, ein Körnchen Zucker, über den Rand der Palatschinke hinunterfiel und verschüttging. Das Geld ihres zweiten Kunden hatte sie schon für sich verwendet und sich neue Strümpfe gekauft, war es doch auch ihr eigener Körper, den sie da feilbot. Beim dritten war es ein Halstuch, lass die Vorhänge auf, ich will dich ansehen, beim vierten, na, kannst du dich nicht wehren, und fünften, gib mir deinen Mund, und sechsten, du jüdische Sau, vier, fünf und sechs zusammengenommen ein neues Paar Schuhe. Es tat ihr weh, es ekelte sie, es war lachhaft, manchmal riss ihre Haut an empfindlichen Stellen ein und brannte, aber allmählich wurde, von allen guten Geistern verlassen zu sein, ihre Arbeit. Sie wusste nun, was die Männer vor ihren Familien verbargen, und auch die, die ihr in Uniform, in Hut und Zylinder oder im Kittel auf der Straße begegneten, vermochte sie nicht mehr anders zu sehen als, wie sie im Grunde doch alle waren: nackt. Was sie von dem Geld kaufen konnte, das sie auf diese Weise verdiente, war gemessen daran, dass sie mit niemandem auf der Welt, schon gar nicht mit sich selbst, mehr eins war, lächerlich wenig. Aber gerade je weniger ein Kleid, ein Hut, ein Schmuckstück in einem Verhältnis dazu stand, was sie von sich hergab, desto leichter wurde es ihr, sich ein weiteres Mal zu verkaufen. Irgendwann wäre ihr wahrer Wert, den jetzt nur noch sie allein kannte, unermesslich. Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;/ Unsterbliche heben verlorene Kinder/ Mit feurigen Armen zum Himmel empor. Die Mutter fragte nicht, woher die neuen Sachen eigentlich kamen, die sie jetzt trug, aber auch ungefragt sagte sie ihr, sie habe die Schuhe da oder dort billig gekauft, schon gebraucht, dies oder das habe ihr eine Freundin geschenkt, den Ring habe sie auf der Straße gefunden. Hatte ihre Mutter sie nicht auch eine ganze Kindheit und Jugend lang über den Tod des Vaters belogen?
    21
    A uf das Ergebnis der Prüfungen warten im Halbdunkel der großen Halle tausend oder zweitausend Menschen, und fortwährend kommen neue hinzu. Auf Bänken hocken, liegen und sitzen diese Menschen, Menschen mit Bündeln, Bettzeug und Kisten, mit Samowaren, Menschen ohne jedes Gepäck, rennende Kinder, weinende Babys, Menschen, die sich am Boden hingelegt haben und schlafen, Menschen mit gebrechlichen Eltern, Menschen, die kein Wort Englisch verstehen, Menschen, die nicht wissen, ob der, der sie hier abholen soll, wirklich kommt, Menschen, die hoffen, Menschen, die zweifeln, Menschen, die Heimweh haben, Menschen, die Angst haben, Menschen, die nicht wissen, was sie erwartet, Menschen, die überlegen, wo sie die 25 Dollar für die Einreise herbekommen, Menschen, die plötzlich wieder zurückwollen, Menschen, die nur froh sind, dass der Boden unter ihren Füßen nicht mehr schwankt, Menschen mit kurzen oder langen Hosen, mit Kopftüchern, Röcken, Anzügen, mit Hüten, mit Fransen, Schuhen oder Pantoffeln, mit Handschuhen oder Manschetten, mit Zöpfen, Bärten, Schnurrbärten, Locken und Scheiteln, Menschen mit vielen, mit wenigen oder gar keinen Kindern – unzählige Menschen, die allesamt darauf warten, dass irgendwann ihr Name ausgerufen wird, und sie erfahren, ob sie bleiben dürfen oder zurückgeschickt werden nach Europa. Nicht viel anders, denkt der junge Mann, der auch einer der Wartenden ist, wird es wahrscheinlich dereinst beim Jüngsten Gericht zugehen.
    Und dann gibt es plötzlich ein lautes Scheppern und Klirren in der Halle, und jeder verstummt für einen Moment und schaut hin und sieht: Eine große chinesische Vase ist am Boden zerschellt – ausgerechnet auf einem der ganz wenigen Plätze in der Halle, der nicht mit Menschen oder Kleidern oder Bündeln bedeckt ist, sondern nur mit steinernen Fliesen, hat ein Mädchen sie fallen lassen, diese Vase, die sie seit ihrer Abreise aus einer Kleinstadt bei Bukarest oder bei Warschau, bei Wien, Odessa, Athen oder Paris den ganzen Weg über Bremen, Antwerpen, Danzig, Marseille, Piraeus oder Barcelona im Arm gehalten hat: Diese Vase zerschellt hier, in der Ankunftshalle, der letzten Station vor New York, denn das Mädchen hat zum ersten Mal in seinem Leben einen schwarzhäutigen Mann gesehen, einen Beamten der Einwanderungsbehörde, der gerade zufällig den Saal durchquert, und hat wahrscheinlich geglaubt, das sei der Teufel. Die Mutter des Mädchens sieht jetzt so aus, als würde sie

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