Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
sagt: Nimm ein Buch, lies und warte, bis ich zurück bin.
Dann fährt der Sohn zum Haus seiner Mutter.
Die Haushälterin: Was soll ich denn machen?
Der Sohn: Sie können ja nichts dafür.
Der Sohn sucht seine Mutter in den umliegenden Straßen. Irgendwo sitzt sie im Nachthemd auf einem Bordstein und weint.
Abends, als die Kinder im Bett sind, sagt der Sohn zu seiner Frau:
So geht’s mit meiner Mutter nicht weiter.
Die Frau sagt: Ich weiß nicht, was du meinst.
Meine Mutter, sagt er, hat doch ein großes Haus.
Die Frau sagt: Vergiss es.
Der Mann sagt: Ich weiß, es wäre für dich nicht ganz leicht.
Die Frau: Sie hat die Kinder immer nur gegen mich aufgehetzt. Wenn du Krieg haben willst, können wir gern bei ihr einziehen.
Der Mann: Aber sie kann sich selbst nicht mehr helfen.
Die Frau: Sie hat mir nicht e i nmal mit den Kindern geholfen, als du das Jahr in Leningrad warst.
Der Mann: Sie hält das eben nicht aus, wenn der Große so laut Musik hört.
Und die Kleine?
Ihr war die Verantwortung einfach zu groß.
Siehst du, und jetzt halte ich das eben nicht aus, und jetzt ist mir die Verantwortung auch einfach zu groß.
Wir werden doch alle irgendwann einmal alt.
Aber ich werde den Teufel tun, die Kinder dann zu erpressen.
Sie erpresst mich doch nicht.
Naja.
Sie weiß nicht mehr, was sie tut.
Das geschieht ihr ganz recht, nachdem sie immer alles besser gewusst hat.
Sei doch nicht so hässlich.
Jetzt bringt sie uns noch auseinander.
Ach was.
BUCH V
1
I n der Woche, in der Frau Hoffmann, einen Tag nach ihrem neunzigsten Geburtstag, sterben wird, hat Schwester Renate Frühdienst.
In der Woche, in der Frau Hoffmann, einen Tag nach ihrem neunzigsten Geburtstag, sterben wird, teilt sie sich, wie schon in den vergangenen sieben Monaten, das Zimmer mit Frau Buschwitz, deren Angewohnheit es ist, jeden, der sich ihr auf mehr als einen Meter nähert, zu kratzen und zu schlagen. Gleich beim Einzug von Frau Buschwitz in das Zimmer von Frau Hoffmann hatte diese ihren ersten und einzigen Kampf mit der neuen Zimmergefährtin ausgefochten, sie hatte sich Frau Buschwitz genähert, um sie freundlich zu begrüßen, daraufhin hatte Frau Buschwitz, wie es nun einmal ihre Art war, Frau Hoffmann attackiert, worauf diese in der Überraschung nach dem nächsten Gegenstand in ihrer Reichweite, der sich zur Verteidigung eignen könnte, gesucht und nichts anderes erwischt hatte als ein Stück Zwieback, das auf dem Tisch lag. Mit diesem Zwieback hatte sie Frau Buschwitz über das Gesicht geschrammt, woraufhin diese von ihr abließ. Frau Hoffmann hatte sich von da an der Zimmergefährtin nie wieder auf mehr als einen Meter genähert.
Auch diese Woche, in der sie, einen Tag nach ihrem neunzigsten Geburtstag, sterben wird, beginnt mit einem Montag, wie alle anderen Wochen, und auch dieser Montag mit dem Frühstück um acht, wie alle anderen Tage, und das Frühstück wie immer damit, dass die diensthabende Pflegerin sie mit dem Rollstuhl aus dem Zimmer in den Frühstücksraum hinüberschiebt, mit großem Bogen um Frau Buschwitz herum. Was ist ein Montag?
Frau Hoffmann sitzt wie immer an dem langen Tisch zwischen Frau Schröder und Frau Millner, die noch auf Stühlen sitzen können. Zwischen den Stühlen von Frau Schröder und Frau Millner ist, wie immer, für ihren Rollstuhl ein Platz freigelassen. Auch Frau Hoffmanns rote Haare sind inzwischen grau, so dass jemand, der sie von früher kennt, sie zwischen den vielen nickenden, schiefgelegten, schlafenden oder gebeugten grau- und weißhaarigen Köpfen kaum herauskennen könnte. Wenn sie beim Frühstück spricht, stört das niemanden hier, denn die Ohren all der Damen und Herren sind schon sehr alt. Und wenn Marmelade auf ihre Bluse fällt, stört es auch niemanden hier, denn die Augen all der Damen und Herren sind gleichfalls sehr alt. Nach wenigen Bissen schiebt sie ihren Frühstücksteller von sich und mag nicht mehr essen.
Tausende sind von den verschiedensten Ebenen her zu diesem Essen eingeladen worden. Aber ich kann das nicht essen.
Schwester Renate, die Tee ausschenkt, sagt:
Aber Frau Hoffmann, Tausende sind wir hier wirklich nicht.
Doch – Tausende! Und ich weiß nicht, warum diese Menschen zusammengekommen sind, ich kann den Grund, den Sinn dieses Treffens nicht in Erfahrung bringen – aber es muss doch einen Sinn haben!
Frau Hoffmann, jetzt essen Sie mal.
Es ist aber so ärmlich! Man muss doch eine Auswahl haben. Warum essen all die Tausende dieses Zeug,
Weitere Kostenlose Bücher