Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Handschrift seiner Mutter, darüber ein Hakenkreuz-Stempel: Evakuiert nach dem Osten.
Seine Mutter hat den Brief irgendwann einmal dort unter die Laken geschoben.
Er hat ihn jetzt hervorgezogen.
Er schaut das Kuvert an, dreht es um, auf der Rückseite ist in kyrillscher Schrift eine Adresse geschrieben.
Er schiebt den Brief wieder unter die Laken.
Aber jetzt ist das Versteck kein Versteck mehr.
Hat sie wirklich kein Foto von seinem Vater?
Am Abend dieses Tages holt er sich aus dem Bücherregal seiner Mutter den Atlas.
Wo überhaupt liegt Charkow?
23
A m nächsten Morgen ist Sonntag.
Am nächsten Morgen ist seine Mutter noch immer tot.
Wenn sie nur bald mit dem Totsein aufhören würde, denkt er.
Wenn die Treppe nicht gewesen wäre, würde die Mutter noch leben, denkt er.
Wenn sie nicht in dieses Haus mit dieser Treppe gezogen wären.
Wenn es der Mutter nicht so gut gefallen hätte, das Haus.
Wenn ihr der Ort, an dem sie sich das Genick brechen würde, nicht so gut gefallen hätte.
Die Treppe ist eben teuflisch.
In dem Atlas der Mutter, der von gestern Abend noch aufgeschlagen auf seinem Tisch liegt, blättert er von der Ukrainischen Sowjetrepublik mit der großen Stadt Charkow zurück auf die Seite von Berlin. Diese Stadt, in der die Mutter vor kurzem noch lebendig war, und in der sie jetzt tot ist, trägt laut wissenschaftlicher Vereinbarung die Koordinaten 52.58373 Grad nördlicher Breite und 13.39667 Grad östlicher Länge, der Ort hat diese Koordinaten schon vor ihrem Tod gehabt, und hat diese Koordinaten jetzt, nach ihrem Tod, noch immer. Da die Menschen schließlich nicht auf dem Mond herumspazieren und dort tot umfallen können, müssen also auch zwei von den Koordinaten in seinem Atlas die Koordinaten des Ortes sein, an dem er selbst aufhören wird zu leben. An dem seine Knochen verrotten. Von dem er jetzt noch nichts weiß, und wenn er es weiß, wird es ihm nichts mehr nützen.
Mama, dann wird also mein Körper auch einmal meine Leiche sein?
Mit all seinen Leberflecken und Narben, mit Haut, Haaren und Adern, die ich jetzt schon so gut kenne? Dann verbringe ich also im Grunde mein ganzes Leben mit meiner Leiche, Mama? Wachse, werde alt, und wenn die Leiche fertig ist, dann geht’s ans Sterben?
Seit seine Mutter die Uhr an der Wand nicht mehr aufzieht, ist es im Haus stiller als jemals.
Auf dieser so vollständig vermessenen Welt ist er also allein.
Allein.
Allein mit Regalen, die mit Büchern gefüllt sind, Schränken mit Schubladen voller Akten und Notizen, allein mit Stühlen, Betten, Tischen, Sofas, Schränken, Garderobenhaken und Lampen, allein mit dem Kronleuchter, mit Teppichen, einer Korbtruhe, Wintermänteln, mitder Schreibmaschine seiner Mutter, allein mit Flaschenöffnern, Kopfschmerztabletten, mit Bettwäsche, Putzmitteln, Werkzeug, Schuhen und Töpfen, mit Bügelbrett, Wäscheständer, Teetisch und Wandbehang mit riesiger gelber Sonne, mit Besen und Schrubber, Kämmen, Bürsten und Schminkzeug der Mutter, mit Duschbad und Cremes, Geschirr, Messern und Gabeln, Blumenvasen, Büroklammern, Briefumschlägen, den Tagebüchern und Manuskripten seiner Mutter, mit Schallplatten und einem Schallplattenspieler, acht Flaschen Wein, einer Spieldose, Ketten, Ringen und Broschen, mit zwei Büchsen Linsen, einem Kühlschrank, darin ein halbes Stück Butter, drei Becher Joghurt, zwei Scheiben Käse, allein mit einem Drehsessel und zahllosen Graphiken in verschiedenen Größen, einigen Gemälden, eins davon ein Porträt seiner Mutter, allein mit zehn Äpfeln, einem Brot, etlichen Bleistiften und Füllern, Radiergummis und stapelweise weißem Papier, allein mit Bindfaden, Untersetzern, Topflappen, mit Münzen und Geldscheinen aus verschiedenen Ländern, mit Spiegeln, Verlängerungskabeln und einem Zimmerspringbrunnen, der nicht mehr funktioniert, allein mit zwei Gummibäumen, mehreren Bettdecken, Wolldecken, Kissen, mit leeren Koffern, Handtaschen, Hausschuhen, Nussknackern, Tischdecken und Durchschlagpapier, Handtüchern, Brillen, Pullovern, Strümpfen und Blusen, Unterwäsche, mit Strickjacken und Halstüchern seiner Mutter, allein mit seiner eigenen Säuglingsgarnitur und einem Brettchen, das er noch im Moskauer Kindergarten bemalt hat.
Allein.
Wird er ihre Brille aufheben müssen, um sich an ihre Augen, und ihr Portemonnaie, um sich an ihre Finger zu erinnern, ein Paar Schuhe, um für immer ihre Füße in den Schuhen zu sehen, und ihre wollene Decke, um sein restliches Leben lang
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