TTB 118: Die schlafende Welt
PROLOG – 2432 n. Chr.
Es war sein letzter Tag auf dem Mars.
Um genau 11 Uhr Greenwich-Zeit wurde Donald Shey von schrillem Sirenengeheul unter seinem Hotelfenster geweckt. Erschreckt fuhr er in seinem Bett hoch. Jetzt schon? dachte er. Habe ich verschlafen?
Doch nach einem kurzen Blick auf das Zifferblatt seines Weckers entspannte er sich wieder. Noch gute zehn Stunden Zeit. Die Sirenen waren Polizeisirenen gewesen und hatten nichts mit dem Luftschutz zu tun.
Das entnervende Heulen erstarb irgendwo in der Nähe, und die Unruhe kehrte zurück. Hatte man ihn vielleicht doch noch aufgespürt, jetzt im letzten Augenblick? Stapften die Füße seiner Häscher bereits die Stufen empor?
Er sprang aus dem Bett und kleidete sich hastig an. Er fuhr in die isolierten Halbstiefel, die auf dem Mars üblich waren und mühte sich verzweifelt mit den widerspenstigen Schnürsenkeln ab.
Ein lautes Klopfen an der Tür.
Er erstarrte. Die Hand glitt zur Waffe. »Wer ist da?«
»Bedienung, Sir. Die Zimmer müssen bis zwölf Uhr geräumt sein. Wollte Sie nur noch mal erinnern, Sir. Und die Fähre zur Erde, auf der Sie gebucht haben, startet um zwei.«
Shey atmete auf. »Äh … ich wollte sowieso bald ‘runterkommen. Danke.«
»Gehört zum Service.« Schritte entfernten sich.
Shey saß einige Minuten regungslos auf der Bettkante und versuchte sich zu beruhigen. Sechs Monate – nach welchem Kalender auch immer – waren einfach zuviel für einen solchen Auftrag. Er war bereits schreckhaft geworden.
Er seufzte, nahm den Mantel und seine Reisetasche und verließ den Raum.
Nachdem er seine Rechnung bezahlt hatte, betrat er das Restaurant des Hotels, bestellte ein Frühstück und wartete auf die marsianische Nacht. Bei Anbruch der Dämmerung mietete er ein Taxi und nannte den Raumhafen im Norden der Stadt als Ziel.
Die großen Marsbergwerke hatten Schichtwechsel, und der Verkehr war entsprechend stark. Während sich das Taxi langsam nach Norden vorkämpfte, versuchte Shey festzustellen, ob er verfolgt wurde. Als sie schließlich den Raumhafen erreichten, war er ziemlich sicher, daß ihm niemand folgte. Um jedoch auch das geringste Risiko auszuschalten, mischte er sich kurz unter die Menschenmenge, ehe er das Flughafengebäude durch eine Seitentür wieder verließ und ein Taxi nahm, das einer anderen Gesellschaft gehörte. Dem Fahrer nannte er eine Adresse auf der anderen Seite der Stadt.
Ich werde nervös, dachte er.
Aber in neun Stunden würde alles vorüber sein. Hoffentlich.
Das Taxi setzte ihn in der Nähe des Garagen-Appartements ab, das er unter dem Namen William Howards gemietet hatte. »Zwei-zehn«, sagte der Fahrer.
Shey gab ihm drei und gähnte. »Fühle mich den ganzen Tag schon so schläfrig. Muß am Wetter liegen. Wie steht’s mit Ihnen? Auch müde?«
»Nee. Bin daran gewöhnt.«
»Kein bißchen müde?«
»Nee. Sie werden sich auch noch daran gewöhnen. Diese Luft und diese komischen Tage – das macht einen zuerst ganz fertig, zugegeben. Aber nur zuerst.«
Shey lächelte. »Ja, das wird es sein.« Jetzt bist du noch nicht schläfrig, dachte er. Aber laß dir nur Zeit.
Laß dem gesamten Sonnensystem Zeit.
Noch neun Stunden, nicht mehr.
In seinem Appartement wechselte er die Kleidung und legte den schweren Isolierungsanzug an, mit dem er den Bereich der Atmosphäre- und Heizungsanlagen der Stadt verlassen konnte. Dann ging er in die Garage hinunter.
Die Tanks des dreirädrigen Strahlwagens waren gefüllt, die Maschine war überprüft; die Gepäckkammern enthielten eine Reihe von Schürfgeräten, die ihn als Marsprospektor auswiesen. Er verbrannte sämtliche Papiere des terranischen Handelsreisenden Donald Shey. Sein Name war von nun an William Howards, Prospektor.
Shey überprüfte kurz das Atemgerät, verstaute die übriggebliebene Kleidung und lenkte den Wagen auf die Straße hinaus. Wenige Minuten später brauste er bereits über den Schnellweg, der zu den Außentoren führte. Die gewaltige rostrote Ebene endete einen Kilometer vor den Bombenschirm-Generatoren. Dahinter lag der offene, ungezähmte Mars.
Er näherte sich den Außentoren, rollte in eine Box. Ein stämmiges Individuum, ein Marsbewohner, kam herbei.
»Prospektor?« fragte der Mann.
Shey nickte.
»Ihre Lizenz bitte.«
Shey reichte das Papier durch sein Wagenfenster. Er wußte, daß die Fälschung vor den Augen dieses Mannes bestehen würde. Dieser Posten war nicht hier, um die Echtheit der ihm vorgelegten Papiere zu prüfen,
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