Allerseelen
Landwirtschaftsministeriums aufbäumen, den geflügelten, geschwärzten Löwen auf dem Bahnhof schräg gegenüber, Tiere aus einer Zeit, die es nie gegeben hat, einer Zeit, in der Pferde und Löwen durch die Luft flogen, Traumzeit, die Phantasie eines anderen. Also jetzt.
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Und wir? Keine Meinung, kein Urteil. So lautet der Auftrag. Vielleicht gelegentliche Verwunderung über eure unerforschlichen Wege, obwohl wir daran eigentlich gewöhnt sein sollten. An das Verhältnis zwischen Ereignissen und Gefühlen, die Ungreifbarkeit eures Handelns. An die Mythen, Theorien und Geschichten, um es euch selbst zu erklären, die Versuche zur Wissenschaft, und dann immer wieder der Umweg durch das Widersinnige, Entwirrungen, der überraschende Augenblick, in dem plötzlich ein anderer im Spiegel vor euch steht. Bus 64, der von Atocha über den Paseo del Prado zur Plaza de la Cibeles, dem Paseo Recoletos, der Plaza de Colón und dann zum Paseo de la Castellana fährt, wo der Mann, dem wir mal hinter einem Schneeräumgerät den Spandauer Damm entlang folgen mußten, aussteigt und zur Calle de Serrano geht, durch den Gitterzaun eines großen Gebäudes tritt, ein Granitportal, in eine Eingangshalle, in der ein uniformierter Pförtner zwischen mehreren Monitoren sitzt. Wir kennen diesen Raum bereits, wir waren da, als Elik Oranje hier das erste Mal mit ihrem Empfehlungsschreiben eintrat, als sie ihre ersten Instruktionen erhielt, zum erstenmal an dem langen Tisch zwischen den anderen Forschern, Gelehrten, Wühlern, Maulwürfen sitzen durfte, die in der Stille, die dort herrscht, kaum aufsahen, sich, auf die Buchstaben und Zahlen in all diesen gealterten Schriftstücken, die Rätselzeichen und Hieroglyphen der endgültig vergangenen Zeit starrend, in Folianten, Registern, Verträgen, Grundbüchern vergraben hatten. Natürlich kennen wir den Grad ihrer Erregung, die Argumente ihres Doktorvaters hat sie in einem Kübel ertränkt, hier wird sie zum erstenmal, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, ihre Hand auf die Buchstaben legen, die von ihrer Vogelkönigin eigenhändig geschrieben worden sind. Dies war ihr großer Augenblick. Näher kann sie ihr nicht kommen, alles, was bisher eine Abstraktion war, nimmt Form an, alles wird wahr. Dies ist, was sie wirklich wollte, durch nichts wird sie sich abhalten lassen. Einst ist ihr etwas widerfahren, eine Verletzung, und nach der verbogenen Logik, die euch manchmal eigen ist, muß die Antwort auf diese Verletzung eine Verletzung sein. Nein, das ist kein Urteil, und außerdem, es ist bereits geschehen, und was immer sie auch behaupten wird, wir wissen, was es sie gekostet hat. Es steht uns nicht zu, darüber etwas zu sagen, wir verfolgen zwei Leben, nicht eines.
Es ist jetzt nicht mehr dieses erste Mal, doch die Spannung ist geblieben. Sie macht sich die Namen zu eigen, die Geliebten, die Ratgeber, die Feinde. In zwei Zeiten lebt sie, manchmal ist es kaum auszuhalten, als sänke sie in der Beengung einer Taucherglocke in dieses andere Element hinab, vergangene Zeit, in der kaum Licht scheint, in der sich die Geheimnisse befinden, die sie sucht. Das Auge der Kamera registriert die Leere vor ihr auf dem Tisch, zu Beginn fand sie das unangenehm, jetzt ist sie daran gewöhnt, der Pförtner oben sieht sie, ohne sie zu sehen, das tote Auge erfaßt den gesamten Raum, die anderen Gelehrten, die Bullen, Urkunden, Listen, Landkarten, Verzeichnisse, Karteikarten vor ihnen. Als sie aufgerufen wird, folgt das Auge ihrer Bewegung, diesmal wie bei jenem ersten Mal, das nun schon wieder einen Monat zurückliegt, als sie die fast mannsgroße carpeta vor sich auf den Tisch legte, wodurch die anderen ein wenig beiseite rücken mußten. Ihre Hände betasten das gegerbte, glänzende Tierfell, das mehr als achthundert Jahre alt ist, ihre Augen sehen zum erstenmal die Runen, die langen Striche und ineinandergeflochtenen Kringel, die zusammen die stilisierte Unterschrift Urracas bilden, ein Gefüge aus Arabesken, das einst langsam und mühsam von einer lebendigen Hand unter einen Vertrag, eine Schenkung, eine Erblassung gesetzt wurde. Das vellum nimmt den Raum bis zur anderen Tischseite ein, vorsichtig fährt sie mit dem Finger die Linien der Schrift nach, Ego adefonsus dei gra rex unu cum coniuge meu uracha regina fecimus …
Die Stille im Saal ist absolut, als könne so viel Vergangenheit kein Geräusch vertragen, weil sie sonst zerbröckeln, verfliegen würde – ein Hüsteln, das Kratzen eines Stifts, das
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