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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Schnee von ihrem Hütchen zu wischen.
    »Können Sie ihn bitte halten, während ich telefoniere?«
    Deutsch aus den Mündern mancher Frauen war eines der schönsten Dinge, die es gab, doch nun war keine Zeit für Frivolitäten. Und außerdem stank der Mann. Die Schwester, oder wie nannte man so jemanden, hatte offenbar Erfahrung damit, denn ihr schien das nichts auszumachen. Arthur mußte gegen den Brechreiz ankämpfen, doch kam ihm der Mann zuvor, denn in dem Augenblick, als er ihn übernahm, quollen sowohl Kotze als auch Blut aus seinem Mund.
    »Oh Gott«, sagte die Frau, und es klang, als bete sie, »ich bin gleich zurück.«
    Sie verschwand im Schneetreiben. Arthur, der jetzt auf den Knien hockte, ließ den Körper, den er halb aufgerichtet hatte, an seiner Brust lehnen. Er sah, wie sich die Schneeflocken im grauen Kraushaar einnisteten, dort schmolzen, wie Tropfen glänzten und dann wieder von neuen Flocken zugedeckt wurden. Mit der Rechten nahm er eine Handvoll Schnee auf und versuchte damit, das Blut und die Kotze wegzuwischen. Er hörte den Verkehr auf der Hardenbergstraße, das nasse Zischeln der Reifen. Innerhalb weniger Stunden würde alles eine ungeheure Pampe sein, Schneematsch, der gegen Abend gefrieren würde. Berlin, ein Dorf in der Tundra. Wie hatte sie diesen Mann bloß gefunden?
    Er fragte sie, als sie zurückkam.
    »Bei solchem Wetter suchen wir sie. Wir wissen schon ungefähr, wo sie stecken.«
    »Aber wen haben Sie denn jetzt angerufen?«
    »Kollegen.«
    Das schien ihm ein seltsames Wort in diesem Zusammenhang.
    Ob es Menschen gab, die ein Verhältnis mit einer Soldatin der Heilsarmee hatten? Das Eisblau ihrer Augen war lebensgefährlich. Daane, hör auf. Hier hockst du, einen halbtoten Neger in den Armen. Versuch doch ein einziges Mal, zur Menschheit zu gehören.
    »Scheiße«, sagte der Neger in perfektem Deutsch. »Scheiße, Arschloch, Scheiße.«
    »Sei ruhig«, sagte die Soldatin und wischte ihm, ebenfalls mit etwas Schnee, den Mund ab.
    »Scheiße.«
    »Sie können gehen«, sagte sie. »Das war sehr freundlich von Ihnen. Aber meine Kollegen kommen gleich, ich habe sie vom Wagen aus angerufen.«
    Soldaten Christi, dachte er. Irgendwo ist immer Krieg. Der Mann hatte die Augen geöffnet, zwei ockerfarbene Kugeln, in denen Blut schimmerte. Die Welt als Serie von Erscheinungen. Wie viele dieser Epiphanien würde er bis zu seinem Lebensende gesehen haben? Wo blieb alles nur?
    »Bier«, sagte der Mann.
    »Jaja.«
    Arthur Daane hatte schon früher gemerkt, daß er, wenn an seinen meditativen Tagen etwas Besonderes passierte, darüber ausschließlich in Klischees nachdenken konnte, Dinge, die jeder andere genauso hätte denken können, wie zum Beispiel, daß der große schwarze Körper, den er in seinen Armen hielt, einmal ein Kind war in irgendeinem afrikanischen Land oder, weiß der Himmel, in Amerika – alles banaler Quatsch, der einem nicht weiterhalf. Liegenlassen wäre vielleicht noch die beste Lösung gewesen, Tod im Schnee. Angeblich merkte man davon nichts. Jetzt würde er von der gutwilligen Soldatin in irgendeinen Schlafsaal geschleppt und unter die Dusche gestellt werden.
    Ein Neger im Schnee, das wäre vielleicht auch etwas für Caspar David Friedrich gewesen. In all seinen Bildern lauerte ein Abgrund, der erst später sichtbar wurde, für den der Maler einfach noch keinen Ausdruck gefunden hatte. Dann mußte man sich mit törichten Kreuzigungen auf Berggipfeln und verfallenen Klostermauern behelfen, mit in Fledermäuse verwandelten Mönchen, den Bastardengeln des Verfalls. Er hörte eine Sirene näher kommen, wimmernd ersterben. Durch den Schnee sah er das Auto mit dem Blaulicht. »Ja, hier!« rief die Frau mit dem Hütchen. Mühsam erhob er sich. Die beiden Männer, die durch den Schnee auf ihn zustapften, sahen aus wie echte Soldaten, er mußte machen, daß er wegkam. Ein Rum an der Ecke, und dann nach Golgatha im Riesengebirge. Wer nichts zu tun hat, muß sich an das halten, was er sich vorgenommen hat. Er sah das Gemälde vor sich. Das Ambivalente an Kunst war, daß sie den Abgrund sichtbar machte und gleichzeitig einen Schein von Ordnung darüberspannte.
    Er ging in Richtung Schillerstraße. Es gab nur zwei Städte, die einen so zum Laufen herausforderten, Paris und Berlin. Das stimmte natürlich auch wieder nicht, er war sein ganzes Leben lang überall viel zu Fuß gegangen, doch hier war es anders. Er fragte sich, ob das durch den Bruch kam, der durch beide Städte lief,

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