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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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spazierengingen, eingebildet, daß sich hier seit den Zeiten Homers nichts geändert haben konnte, daß Odysseus hier gegangen sein mochte, daß er gesehen hatte, was er, Arthur Daane, jetzt sah. Und natürlich war das Meer weinschwarz, und natürlich war das Schiff am Horizont das Schiff der Heimkehr, und die armselige Hütte, die ihnen als die Hütte des Schweinehirten Eumaios bezeichnet wurde, war sie natürlich auch. Roelfje hatte ihre Odyssee bei sich gehabt, und in der Sonne, auf einem Hügel voller Klatschmohn und Klee, hatte sie ihm daraus vorgelesen.
    Im Gymnasium war Odysseus sein Held gewesen, und als er nun dort dieselben Worte und Namen hörte, ging ihm zum erstenmal die wahre Bedeutung des Ausdrucks génie de lieu auf. Selbst wenn es nicht dort gewesen wäre, wäre es doch dort gewesen, auf diesem Feld voller Steine und halb eingestürzter Mäuerchen, wo der zurückgekehrte König, als Bettler verkleidet, den Schweinehirten aufsucht und später seinen Sohn wiederfindet.
    Sein Sohn, in welchem Jetzt befand er sich? Das war das Gefährliche am Umgang mit Toten. Manchmal gaben sie einem einen Augenblick zurück, und für einen Moment war es, als könne man sie berühren, doch der Augenblick, der dem hätte folgen müssen, war verronnen, verschwunden, schaffte es nicht mehr durch die Zeitmauer. Ein Jetzt in Berlin und ein Damals in Ithaka, das sich ganz kurz als Jetzt ausgegeben und ihn also betrogen hatte, das Jetzt dieses Augenblicks hatte sich als Ort von Damals vermummt, wie es durch die Kraft dieses Gedichts auch geschehen war, als sie dort waren. Sie hatte nicht die Abenteuer vorgelesen, die er früher so bewundert hatte, sondern gerade die Szenen, die auf Ithaka spielten, von Eurykleia, die einst, als sie noch jung war, von Laertes, dem Vater des Odysseus, für zwanzig Ochsen gekauft worden war. In der Nacht, bevor Telemachos sich auf die Suche nach seinem Vater Odysseus begibt, geht sie in sein Zimmer, nimmt seine Kleider, faltet sie, streicht sie glatt. Man sieht die alten Frauenhände, die das tun, man sieht sie, als sie den Raum verläßt, sie faßt an den silbernen Türknauf, und man hört das Geräusch, wie sie den Riegel ins Schloß schiebt. Das war eine andere Welt gewesen, in der die Diener ein Teil der Familie waren. Man durfte kein Heimweh danach haben, doch manchmal schien es, als rissen die Diener bei ihrem Weggang auch die Familien auseinander. Dort, auf diesem Feld, hatte sich die Welt noch nicht aufgelöst, nach allem Tod und Untergang und der labyrinthischen Bewegung des Reisens hatte der Dichter schließlich das Gewebe der Rückkehr gesponnen. Rückkehr, Vereinigung, Mann und Frau, Vater und Sohn. Arthur unterdrückte den Gedanken, der jetzt aufkam. Er hatte rasch gelernt, daß Sentimentalität nicht die richtige Art und Weise war, mit Toten umzugehen. Erst mit ihrem Tod war der Augenblick gekommen, da sie etwas nicht mehr konnten, und weil sie das nicht wußten, konnte man mit ihnen darüber nicht mehr sprechen. Die Gesetze sind nur für die Überlebenden da, und das bedeutete, daß kein Telemachos ihm je nachreisen würde und daß er zusehen mußte, wie er die Melodie aus diesem griechischen Restaurant aus dem Kopf bekam. Und dennoch, ein Gedanke, der ihn damals auf dieser steinigen Wiese beschäftigt hatte, würde ihn, wußte er jetzt, nie mehr loslassen: daß sie dort, an diesem Hang, in die Geschichte mit eingewoben worden waren, daß der Dichter sie einbezogen hatte, nicht mit ihren Namen, aber doch mit dem, was sie waren. Ob es Odysseus und Eumaios je gegeben hatte, ob sie ihre Hände auf diese Steine hier gelegt hatten, spielte keine Rolle, wichtig war, daß sie, die späten Leser, die die Worte in einer Sprache aussprachen, die der Dichter nie kennen würde, Teil seines Gespinsts geworden waren, auch wenn sie nicht darin vorkamen. Das machte die Steine, den Weg, diese Landschaft magisch, und nicht umgekehrt. Es sind die Augenblicke, da das Jetzt sich verewigt, da die alte Frau dort mit ihren Ziegen Eurykleia ist und da sie noch einmal erzählen wollte, wie der Held heimkehrte, wie sie ihn erkannte und wie sie den Sohn hatte weggehen sehen, den Weg hinunter zum Hafen, an einem Tag wie diesem, und damit diesem Tag, ihrem Tag, weil ein Gedicht nun einmal erst dann fertig ist, wenn der letzte Leser es gelesen oder gehört hat.
    »Ruhig, Daane.«
    War er das nun selbst oder hörte er das? »Ruhig, Daane.« Jedenfalls hatte es geholfen, der Gedankenstrom war unterbrochen.

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