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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Autos fuhren mit Fernlicht. Er überlegte, wieso er wohl gerade jetzt an eine griechische Insel denken mußte. Das passierte ihm öfter: Aus dem Ungereimten tauchte mit einemmal, ohne unmittelbar erkennbaren Anlaß, ein Bild auf, eine Kirche, eine Landstraße, ein paar Häuser an einer verlassenen Küste. Er wußte, daß er das irgendwann gesehen hatte, konnte sich aber nicht erinnern, wo, als trüge er eine erinnerte, aber nicht mehr benennbare Erde mit sich herum, einen anderen Planeten, auf dem er ebenfalls existiert hatte, dessen Name jedoch gelöscht war. Manchmal, wie zum Beispiel jetzt, wenn er sich bis zum Äußersten anstrengte, konnte er sein Gedächtnis zwingen, mehr preiszugeben als lediglich vage Rätsel aus einem Leben, das sich bemühte, dem eines anderen zu gleichen und ihn damit in die Irre zu führen.
    Am Abend zuvor hatte er in einem griechischen Restaurant gegessen, es mußte etwas mit der Musik zu tun haben, die er dort gehört hatte, und er versuchte, sich die Melodie dieser Musik, die er leise mitgesummt hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Ein Chor war es gewesen, dunkle Stimmen, die tief und beschwörend halb gesungen, halb gesprochen hatten. Der Kellner, der ihn bediente, hatte die Worte gekannt und mitgeraunt, und als er gefragt hatte, was sie bedeuteten, hatte der Mann die Hände gehoben und gesagt: »Eine alte Geschichte, sehr kompliziert, sehr traurig«, und war dann, als müsse er die Stimmen einholen, laut artikulierend im Takt der Musik weggegangen, die Kreise durch das Restaurant beschrieb, mal drohend, mal ergeben, fast ländlich, melancholisch, der Kommentar zu einem dramatischen Ereignis, das stattgefunden hatte und ein großes, dauerndes Leiden nach sich ziehen würde. Das war es gewesen, wußte er jetzt, die Küste Ithakas hatte er gesehen, Phorkys’ Bucht, die Hügel wie große, dunkle Tiere, das Meer, das sich an diesem Tag keine Wellen hatte vorstellen können, trügerischer Onyx, der bersten würde, sobald man einen Fuß darauf setzte. Galini nannten die Griechen dieses regungslose Wasser. Und jetzt kamen die anderen Gedanken, er wurde, so nannte er das, wieder gerufen. Nicht, daß er das je einem anderen erzählen würde – nicht einmal, zumindest nicht mit diesen Worten, Erna. Ithaka, seine erste große Reise mit Roelfje, irgendwann in den späten siebziger Jahren, lächerlicher Ausdruck. Irgendwann im Morast der vergangenen Zeit. Sie rief ihn nicht, und doch rief sie ihn. Sie war dort irgendwo, sie wollte etwas sagen, sie wollte, daß er an sie dachte. Anfangs hatte er solche Gedanken als gefährlichen Hinterhalt unterdrückt, später hatte er ganze Gespräche mit ihr geführt, eine Form von Intimität, die er mit niemandem sonst haben konnte und die ihm den Atem nahm. Sie tat das, dachte er, nicht oft, aber sie hatte ihn noch nicht vergessen, wie Eurydike in diesem Rilke-Gedicht, das Arno einmal vorgelesen hatte, in dem sie Orpheus, der sie aus der Unterwelt zurückholen will, nicht mehr erkennt: »Wer«, sagt sie, »wer ist dieser Mann?« Aber wie kam es, daß er jetzt an sie dachte und nicht gestern abend, als er diese Musik hörte? Wer bestimmte die Augenblicke? Und dann der andere, gefährliche Gedanke: Würde er sie wiedererkennen? Tote verschleißen nicht, sie bleiben immer gleich alt. Was verschleißt, ist die Möglichkeit, an sie zu denken, wie man an einen Lebenden denkt. Anwesend, abwesend. Einmal hatte sie ihn gefragt, warum er sie liebe. Auf diese völlig unmögliche Frage, auf die es tausend Antworten gab, hatte er nur sagen können: »Wegen deines temperierten Ernstes.« Temperierter Ernst! Und dennoch war es das gewesen, in diese beiden Wörter paßten alle Bilder, die er noch von ihr hatte. Es hatte mit dem Ernst zu tun, den man zuweilen in Gemälden der italienischen Renaissance sieht, blonde Frauen, die Licht ausstrahlen und gleichzeitig unnahbar wirken, man würde erschrecken, wenn sie sich plötzlich bewegten.
    Doch solche Dinge sagte man nun mal nicht, genausowenig wie man mit diesem »temperiert« sehr viel weiterkam. Und dennoch war dies das Wort, das zu ihr gehört hatte. Und natürlich wußte er ihre Antwort noch, eine Antwort in Form einer Frage.
    »Ein wohltemperiertes Klavier?«
    »So ungefähr.«
    Sie waren in der Pension Mentor untergekommen, hatten im kalten Wasser der Bucht geschwommen. Es hatte kaum andere Touristen gegeben, keine ausländischen Zeitungen, er hatte sich, sobald sie in den Hügeln zwischen den Oliven und Steineichen

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