Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
weißflauschigen Teppichschnee und geht vor Ottilie in die Knie und legt ihre Fingerspitzen vorsichtig auf die Verbände.
Dort sitzt sie im Sessel, Alabaster mit blondem Haar, kein Kind mehr, noch immer keine Frau. Und Frank erinnert sich an ihr helles Lachen, wenn er sie auf seinen Knien geschaukelt hat und sie an seinen Papa-Ohren zog, die kugelrunden Kleinkindaugen weit aufgerissen, voller Vertrauen und Liebe.
Das alles kann doch nur ein Alptraum sein, denkt Frank. Ein Unglück zieht das nächste nach sich.
Erneut hat Ottilie, seine kleine Blume, deren Blüte er verpasst hat, sich die Arme aufgeritzt, seit vielen Monaten wieder. Was hat sie dazu getrieben?
Es gibt so Vieles, was er wissen muss. Heute, ja heute Abend wird er es in Erfahrung bringen und er schwört sich, das Haus nicht eher zu verlassen, bis er Antworten gefunden hat. Und wenn er tagelang hier bleibt, wenn er darüber seine Arbeit vernachlässigen muss, wenn ...
Ist unser Leben nur noch ein Scherbenhaufen?, fragt er sich, entsetzt darüber, wie apathisch Ottilie den Kummer ihrer Mutter über sich ergehen lässt, wie still sie gegenüber Thomas ist.
War alles nur ein Traum? Ist der Krieg doch nicht zu Ende? Träume ich? Träume ich? Träume ich von einer besseren Zeit, die doch nie kommen wird?
Und der Schuss fällt und der Tiger starrt aus dem Schilf und der Teppich wiegt schwer unter meinen Armen.
Frank verspürt die Anspannung, dass er dringend Ruhe benötigt, dass es ihm nicht gut tut, das Leid in sich hineinzufressen, dass diese Fahrt möglicherweise unbedacht, zu spontan war. Ist er noch immer der Unverbesserliche, der Flaggen klaut und für seine Überzeugungen den steinigen Weg geht? Will er denn nie erwachsen werden?
Ist man mit 44 noch immer derselbe Junge, der man einst war, nach Jahren umschlossen von faltiger Haut? Ein lederiger Sack mit jungem Herzen? Bleibt man immerzu der Knabe, der verwegen ins Leben rief: Heda! Platz auch! Jetzt komme ich! Nichts und niemand können mich besiegen!
Ja!
Oh ja!
Eine Hand legt sich auf seine Schulter und Gina sagt sanft: »Komm doch erst mal rein und setze dich.«
Frank fühlt sich müde, zermürbt, wach und seine Augen brennen, weil er weinen könnte und gleichzeitig der schlummernde Zorn aus seiner Erstarrung erwacht.
Kraftlos stakst er rüber zur eleganten weißen Sitzgarnitur aus Wildleder und lässt sich von der Couch weich umschmeicheln und verschlingen, während Lotte bei Ottilie ist, ihr über das Haar streicht, eine distanzierte Geste, ängstlich fast und Thomas neben dem Sessel kniet, in dem Ottilie sitzt wie eine aus dem ewigen Schlaf erwachte hellhaarige Göttin, der ein vergesslicher Archäologe die Arme nicht entmumifiziert hat.
Was geht hier vor, hier, in dieser singenden Wärme?
Wo ist seine Kraft geblieben, jene Nachdrücklichkeit, mit der er Otto am Kragen packen, ihn gegen die Wand schleudern, Rache üben wollte?
Otto rumort in der Küche.
Gina stellt Tassen und Gläser auf den Tisch.
Otto bringt Mineralwasser und Tee.
»Für Kaffee ist’s zu spät«, murmelt er und kann Frank nicht in die Augen schauen. »Oder?«
»Es ist sowieso zu spät ... Freund«, antwortet Frank sarkastisch und erneut weicht Otto seinem Blick aus. »Ich trinke Sprudel und ich denke noch lange nicht an Schlaf.«
»Na klar doch«, meint Otto und macht sich davon. Er geht gebeugt wie ein alter Mann, die Schultern hochgezogen, sodass seine spärlichen glatten Haare ihm in die Stirn fallen.
»Heute Nachmittag stand sie vor uns«, sagt Gina und serviert. »Wir sind umgehend ins Krankenhaus gefahren, weil wir so einen Schreck gekriegt haben, aber es sah schlimmer aus, als es war. Ottilie ritzt sich die Haut ein, nicht allzu tief, aber ziemlich blutig, na, ihr wisst ja. Vor ein paar Minuten sind wir zurückgekommen. Der Arzt war freundlich, hat etwas Salbe aufgetragen und Verbände angelegt. Es könnte sein, dass sie einige Narben zurückbehält. Sonst nichts, meinte er.«
»Sonst nichts« echot Frank.
»Willst du dich hinlegen?«, fragt Lotte und Ottilie starrt vor sich hin. »Es ist schon nach Mitternacht«, fügt Lotte hinzu. Als wenn das wichtig ist.
»Täubchen«, sagt Frank und erhebt sich, um zu seiner Tochter zu gehen, als Gina ihm die Hand auf den Unterarm legt und den Kopf schüttelt. »Nnnh, nnnh!«
Verdutzt verharrt Frank und sieht Gina fragend an.
»Später ...«
»Aber ...«, begehrt er auf.
»Der Arzt meinte, sie solle sich hinlegen, ausschlafen und morgen ...«
»Morgen
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