Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Ich möchte die Lüge von seinen eigenen Lippen hören. Ich kann nicht warten!«
Das ist es!, denkt Lotte. Er kann nicht warten. Er will wissen, ob er betrogen wurde, denn tief drinnen in ihm keimt gewiss die Hoffnung, es handele sich um einen Irrtum, um einen Schreibfehler oder etwas ähnlich Unverfängliches.
Frank starrt vor sich hin.
Da vorne sitzt sein Sohn, der ein ebenso gutseliger Narr ist wie so viele, die in Vertrauen leben und im Glauben daran sind, dass der Mensch eine gute Seele sei. Thomas wird heute Abend die größte Lehre seiner noch frühen Jugend erteilt bekommt. Er wird lernen, dass Wahrhaftigkeit eine menschliche Tugend ist, die den edleren Geist von der gemeinen Natur scheidet, weil, verdammt noch mal, die Lüge der eigentliche faule Fleck der menschlichen Natur ist. Er wird lernen, dass Freundschaft, so sehr sie auch erstrebenswert sein mag, zuletzt doch nur auf den Nutzen gegründet ist.
Und er wird darunter leiden, wie alle leiden, die diese Lehre ziehen.
Auch ich bin ein Schwachkopf, denkt Frank. Auch ich habe vertraut. Und wurde betrogen. Als wäre es das erste Mal in meinem Leben gewesen. Als hätte ich keine Lebenserfahrung. Liegt es in der Natur der Vorfreude auf ein banales Ereignis wie ein Fußballspiel, dass man seinen Kopf ausschaltet und willig in den See steigt?, erinnert er sich daran, dass er, statt konzentriert, in Gedanken beim Endspiel gewesen war, während Otto, professionell, in Anzug und Krawatte, seinem dubiosen Geschäft nachgegangen war.
Ich habe es nicht besser verdient, urteilt er über sich. Und Lotte hat den ganzen Nachmittag geweint. Sie ist eine gute Frau, die Beste, die Frau, die ich über alles liebe! Und sie hat diesen Kummer nicht verdient, kann nichts dafür, dass ich es für richtig hielt, unser sauer Erspartes einem Angehörigen in den Rachen zu werfen.
Zwischendurch beruhigt sich Frank. Sein Kopf sinkt auf die Brust. Er schnarcht leise. Tom schläft ebenfalls. Lotte starrt mit weit aufgerissenen Augen durch das Autofenster in die Dunkelheit.
Die ganze Reise ist wie ein Albtraum. Die Grenzer, die holperige Straße im Osten, die Geschwindigkeitsbegrenzung. Das Nichts! Die Dunkelheit des Sozialismus.
»Ist es das?«, unterbricht der Fahrer endlich und es ist fast Mitternacht. Er zeigt auf ein weißes Haus, das, von zwei Laternen beleuchtet, wie ein kleiner Palast an der Mündung einer Straße trutzt. Ottos Opel Kapitän wacht vor der Garage und glänzt im Nieselregen.
»Ja, wir sind da«, murmelt Lotte und bezahlt. Sie hatte das Ersparte aus der Zigarrenkiste genommen und die Scheine brennen zwischen ihren Fingern.
Frank ist schon draußen.
Ein kalter Windzug streift durch das Wageninnere. Lotte fröstelt. Auch Thomas steigt aus. »Mein Berliner Kollege ist in fünf Minuten hier«, sagt der Fahrer und reicht Lotte eine Visitenkarte. »Rufen Sie an und er bringt sie für denselben Preis zurück nach Bergborn. Ich spreche das mit ihm ab!«
»Danke. Aber zurück fahren wir wahrscheinlich mit der Bahn«, flüstert Lotte.
Der Fahrer nickt. »Ja. Und glauben Sie mir - manchmal wird nicht alles so heiß gegessen ...«
Den Rest verschluckt der Wind und Lotte schlägt die Tür hinter sich zu.
Die drei Willes blicken den Rücklichtern des Taxis hinterher.
Eine Minute später liegt Franks Finger auf der Klingel.
Die Haustür schwingt auf.
Gina steht vor ihnen. Sie ist dabei, eine Sportjacke abzustreifen, ihr Chanel-Regenschirm lehnt im Flur an der Wand und tropft auf die Marmorfliesen. Hinter ihrem Rücken taucht Otto auf, der sich soeben mit einer Hand die Krawatte abstreift, in der anderen Hand sein Paar Schuhe.
Beide, Gina und Otto, starren verdutzt drein.
Ja, denkt Lotte, uns habt ihr nicht erwartet und gleichzeitig macht sich eine graue Melange aus Gram und Hoffnung in ihr breit.
11
»So eine Überraschung. Warum habt ihr nicht angerufen. Wer hätte das gedacht? Kommt rein!«, sagt Gina. »Ottilie geht es nicht so gut.«
Das milde Licht im Haus der Jäckels, die betäubende Wärme der Gasheizung und Ottilie, die mit frisch verbundenen Armen im Wohnzimmer wartet, lähmt Franks Entschlusskraft, leitet seine Aggression aus und betäubt ihn wie ein schwerer Wein.
Seine Beine sind weich und er muss sich am Türrahmen festhalten. Er sucht nach Worten.
Lottes Stoßseufzer, diese Mischung aus Schrei und Atemnot, hallt durch das Wohnzimmer. Sie ist auf dem Weg zu ihrer Tochter, stolpert um Haaresbreite über den Flokati,
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