Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Schicksal zu stemmen. »Wir rufen ein Taxi und fahren jetzt, hier und auf der Stelle nach Berlin.«
Franks hageres Gesicht ist ein Schattenriss, eine vom Sand der Erbitterung und Sturm des Ingrimms zerklüftete Felslandschaft, unter seinen Augen glühen die Reste des Kohlenstaubs, die sich dort in die Haut gefressen haben.
»Knapp fünftausend Mark sind uns geblieben«, sagt Frank mit blecherner Stimme. »Und ich werde Otto zur Rede stellen.« Bestätigend wiederholt er: »Jetzt, hier und auf der Stelle.«
Mit dem Taxi nach Berlin, lieber Gott!, denkt Lotte. Das ist teuer, fast unbezahlbar, aber sie wagt nicht, Frank zu widersprechen. Hätte doch nur einer von ihnen einen Führerschein. Vielleicht würde man sich irgendwo ein Auto leihen können, denn mit dem Taxi nach Berlin ... Davon kann man für eine ganze Woche etwas zum Essen einkaufen oder noch länger. Das ist Wahnsinn! Sie müssen ihre Pässe dabei haben, sonst kommen sie nicht durch die DDR. Das wird lange dauern. Vor 23 Uhr können sie nicht bei Otto sein.
Frank flüstert, seine Kehle ist rau und die Worte kommen schwer über seine Lippen: »Thomas soll uns begleiten. Ich will, dass er sieht, was geschieht, wenn man einem Freund vertraut.«
»Aber Frank ...«
»Thomas kommt mit!«
Fünfzehn Minuten später sitzen sie im Fond des Mercedes, der nach Taxi riecht wie alle Taxen auf der Welt. Leder, Plastik, Parfüm und verhangener Schweiß. Frank hat mit dem Fahrer einen annehmbaren Preis ausgehandelt, der Lotte nichtsdestotrotz eine Gänsehaut auf den Rücken treibt – da kann sie nicht aus ihrer Haut. Tom flegelt auf dem Beifahrersitz, die langen Beine angewinkelt. Er spürt, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss und schweigt, den Kuss von Gaby noch immer auf den Lippen, ihren Geruch in seiner Seele. Noch nie hat er Vater derart aufgebracht erlebt, was dessen wilde Schweigsamkeit noch hervorhebt. Der Fahrer versucht einen oder zwei Witze und lässt es wieder sein. »Scheiߧ Wetter«, murmelt er und biegt auf die Bundesstraße 1 ab.
Lotte hält Franks Hand und flüstert: »Mach keine Dummheiten. Er wird uns alles erklären können.«
Frank starrt geradeaus durch schlierige Scheiben und nickt. Lotte glaubt ihm keines seiner ungesagten Worte. Es ist 18 Uhr durch und die Straßen sind voll.
»Er hat dich zum Weinen gebracht«, murmelt Frank. »Und er hat unsere Zukunft zerstört.«
Anstatt einer Antwort drückt Lotte seine Hand noch etwas fester. Es war unsere Entscheidung, denkt sie, unsere eigene Entscheidung, das Geld bei Otto anzulegen, war unsere Verantwortung! Soll sie das sagen, mit Frank darüber reden? Nein, jetzt nicht.
Tom dreht sich zu seinen Eltern um. Seine Augen sind geweitet, ungefragte Worte hängen an seinen Lippen.
»Dein Onkel Otto hat uns bestohlen!«, stößt Frank hervor. Lotte spürt, dass sich seine Verhärtung auflöst, dass er endlich über das sprechen muss, was ihn innerlich zu zerreißen droht. »Wir haben ihm unser Geld anvertraut und er hat es verspekuliert.«
Tom nickt, als kenne er die Hintergründe.
»Dieses Geld brauchten wir, um ein Haus zu kaufen. Mama und ich haben es uns schon ausgesucht, ein schönes Haus mit einem großen Garten, in der Siedlung Helene. Wir hätten in zwei oder drei Monaten dort einziehen können, alle zusammen, mit Ottilie, die ganze Familie ... und nun ... nun ist alles weg!«
Und ich habe es mir heute sogar angeschaut, ich Närrin!, fügt Lotte in Gedanken hinzu. Da ist man einmal optimistisch, da glaubt man einmal an das, was man tut und fällt prompt auf die Nase.
»Das ist bestimmt ein Versehen«, sagt Tom.
»Ja, so wird es sein«, bestätigt Lotte.
»Lass den Quatsch«, zischt Frank. »Otto wusste genau, was er tat.«
»Was hast du vor, Papa?« Es ist das erste Mal seit zwei Jahren, dass Tom seinen Vater Papa nennt. Es erscheint ihm angemessen.
Auf Franks Gesicht macht sich ein Lächeln breit. »Ich bringe ihn um!«
»Na, na«, kann der Taxifahrer nicht an sich halten.
»Bitte ... Frank«, Lotte erkennt sich nicht wieder. Was ist los mit ihr? Was verschließt ihren Mund? Warum ist sie so devot? Liegt es daran, dass Otto ihr Bruder ist, der ihnen das Leben mit seinem Mundharmonikaspiel rettete? Oder will, kann sie nicht wahrhaben, was nicht sein darf? Steckt sie den Kopf in den Sand, hält sie die Hände über die Augen, in der Hoffnung, niemand sehe sie?
»Na gut«, beschwichtigt Frank. »Umbringen werde ich ihn nicht, aber ich möchte in seine Augen schauen.
Weitere Kostenlose Bücher