Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
sie von Natur aus ein ordentlicher Mensch. Sie hatte überlegt, ob sie ein paar von den buddhistischen Sprüchen, die auf blasslila Haftnotizzetteln überall hingen, abnehmen sollte. Jon, ihr Exfreund, hatte sich immer darüber lustig gemacht. Er stand zum Beispiel am Kühlschrank und las die Zitate laut und mit Blödelstimme vor. Aber ihr wahres Ich zu verbergen war nicht unbedingt der beste Weg, eine potenzielle neue Beziehung zu beginnen, oder?
Sie hatte auch ihr Bett frisch bezogen, mit der schönsten Bettwäsche, die sie im Schrank hatte. Es dürfte an der Zeit sein, mit ihm zu schlafen, hatte sie gedacht. Sicher, das war nüchtern und unpoetisch, aber so war das nun einmal, wenn man jenseits der dreißig war. Die Zeit des Blumen- und Herzenschenkens war vorbei. Sie waren keine sechzehn mehr. Und religiös waren sie auch nicht. Sie hatten sich im Internet kennengelernt, über ein Partnerportal. Sie hatten alles offengelegt, es war von vornherein alles klar. So wünschten sie sich beide eine langfristige Beziehung – sowohl Ellen als auch Patrick hatte die entsprechenden Kästchen angekreuzt.
Geküsst hatten sie sich schon ein paarmal (und es war schön gewesen), aber jetzt war es an der Zeit für Sex. Ellen war seit einem knappen Jahr solo, und dabei liebte sie Sex. Manche Männer reagierten erstaunt darauf. Sie stellten sich Ellen anfangs als vergeistigtes Wesen voll süßer Unschuld vor, was ihr nichts ausmachte, im Gegenteil, sie bestärkte sie sogar ein bisschen in dem Glauben. Doch dieses Bild von ihr war nicht ganz korrekt. Sie liebte auch Horrorfilme und Kaffee und halbblutige Steaks. Viele Leute waren davon überzeugt, dass sie Vegetarierin war, ja sie dachten, dass sie eine Kräutertee trinkende Vegetarierin sein sollte , und gingen sogar so weit, bei Einladungen spezielle Speisen für sie zuzubereiten und dann zu behaupten, sie könnten sich ganz genau daran erinnern, dass sie gesagt habe, sie esse kein Fleisch.
Sie hatte sich Zeit genommen für ihre Vorbereitungen für diesen Abend. Als Erstes ein langes, dampfendes Bad mit einem Glas Wein und einer CD von Violent Femmes. Die durchdringenden Stimmen und aggressiven Instrumentalklänge unterschieden sich so dramatisch vom sanften Säuseln der Entspannungs-CDs, die den ganzen Tag in ihrer Praxis liefen, dass sie wie eine eiskalte Dusche auf Ellen wirkten. Violent Femmes ließ Erinnerungen an die Achtzigerjahre und an ihre vor Hormonen und Hoffnungen strotzende Teenagerzeit Anfang der Neunziger wach werden.
Als Patrick an ihre Tür klopfte, befand sie sich in einer solchen Hochstimmung, dass ihr unwillkürlich ein bisschen Angst wurde, und ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Das wird ein böses Erwachen geben.
Aber sie hatte diesen Gedanken verscheucht. Und jetzt das … »Ich muss dir etwas sagen.«
Ellen legte ihre Gabel erneut aus der Hand. Wo blieb der Mann bloß so lange? Sie bemerkte, dass einer der Kellner ihr einen verstohlenen Blick zuwarf, so als überlegte er, ob er ihr seine Hilfe anbieten sollte.
Sie schaute auf Patricks halb aufgegessene Mahlzeit. Er hatte den Schweinebauch bestellt. Wie kann man nur, hatte sie gedacht, aber sie kannte ihn noch nicht lange genug, um ihn damit aufzuziehen. Schweinebauch! Das hörte sich schon so widerlich an, und jetzt lag das Ding wie ein Klumpen kaltes, erstarrendes Fett auf seinem Teller.
Falls er sich ausschließlich von so ungesunden Sachen ernährte, die die Arterien verstopften, hatte er vielleicht in der Toilette einen tödlichen Herzanfall erlitten. Ellen überlegte, ob sie den besorgt dreinblickenden Kellner bitten sollte, nachzusehen. Aber wenn Patrick nun der Schweinebauch nicht bekommen war und er sich übergeben musste? Dann wäre es ihm garantiert peinlich, vom Kellner dabei überrascht zu werden. Na ja, ihr wäre es garantiert peinlich. Ein Mann sah das vielleicht anders.
Sie war entschieden zu alt für diese Ängste, die mit ersten Verabredungen verbunden waren. Sie sollte zu Hause sitzen und Kuchen backen oder was auch immer Mütter abends taten.
Ellen schaute auf, und da war er endlich. Er ging auf sie zu. Er wirkte aufgewühlt, so als hätte er gerade einen kleinen Autounfall gehabt, und gleichzeitig peinlich berührt. Das Spiel ist aus, schien sein Gesichtsausdruck zu besagen, als wäre er bei einem Banküberfall erwischt worden und würde mit erhobenen Händen abgeführt werden.
Er setzte sich, breitete die Serviette über seinem Schoß aus und griff zu Messer und Gabel.
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