Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
Schülern oder Patienten immer ansehen, wenn sie die Technik begriffen und zum ersten Mal erfolgreich angewandt hatten. Die Macht ihres Verstandes machte sie buchstäblich sprachlos. Als sie sich selbst das allererste Mal in diesen scheinbaren Schwebezustand versetzt hatte, war es, als hätte sie herausgefunden, dass sie fliegen konnte. Sie dachte oft, das Drogenproblem wäre mit einem Schlag gelöst, wenn sie den jungen Leuten nur Selbsthypnose beibringen könnte.
Patrick war noch immer nicht zurück. Ellen blickte auf ihren vollen Teller. Eigentlich schade drum. Aber wieso sollte sie das Essen nicht genießen? Sie nahm ihre Gabel wieder auf. Ein vorbeischwebender Kellner blieb stehen und schenkte ihr nach. Guter Wein, guter Fisch. Zu dumm, dass sie kein Buch mitgenommen hatte.
Sie dachte über ihren Tag nach.
Bis zu dem Augenblick, als Patrick Messer und Gabel beiseitegelegt hatte, war es perfekt gewesen, einfach wunderschön. Ellen hatte tief und traumlos zum Trommeln des Regens auf ihrem Dach geschlafen und war spät am Morgen vom Sonnenschein auf ihrem Gesicht geweckt worden. Das Erste, was sie sah, als sie die Augen aufschlug, war der Zweig, den sie an der Decke aufgehängt hatte. Er sollte sie immer an das buddhistische Sutra der Achtsamkeit erinnern. Dann hatte sie dreimal langsam ein- und wieder ausgeatmet und dabei die ganze Zeit die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln verzogen.
Sie wünschte, sie hätte ihrer Freundin Julia nie davon erzählt. Julia hatte sie um eine Kostprobe dieses angedeuteten Lächelns gebeten. Als Ellen sich nach langem Bitten endlich dazu bereiterklärte, hatte sich Julia geschlagene zehn Minuten lang die Seiten gehalten vor Lachen.
Die Fensterscheiben hatten sich eiskalt angefühlt, als Ellen aufgestanden war, aber die neue Gasheizung, die ihre Großeltern noch kurz vor ihrem Tod hatten einbauen lassen – dank Großtante Marys Lottogewinn –, sorgte rasch für wohlige Wärme im ganzen Haus. Sie aß Haferbrei mit Rohrzucker zum Frühstück und hörte dabei die Nachrichten auf ABC, die schon einmal schlechter gewesen waren: Die Grippepandemie der letzten Wochen war vermutlich gar keine Pandemie (ihre Mutter, Ärztin von Beruf, hatte das schon die ganze Zeit behauptet), ein vermisstes Kleinkind war wohlbehalten wieder aufgetaucht, bei dem vermeintlichen Bandenkrieg mit Todesopfern handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Familientragödie, der jüngste Politskandal war verebbt, auf den Straßen gab es keine nennenswerten Behinderungen, der Tag würde schwach windig werden, mit Wind aus südwestlichen Richtungen. Es hatte den Anschein, als wäre die Welt ausnahmsweise einmal äußerst überschaubar.
Nach dem Frühstück hatte sich Ellen zu einem Strandspaziergang aufgerafft, von dem sie gut gelaunt und windzerzaust und mit einem salzigen Geschmack auf den Lippen zurückkam.
Sie hatte vier Patienten an diesem Tag. Ein Mann, der seine Flugangst überwinden wollte, damit er und seine Frau ihre Rubinhochzeit in Frankreich feiern konnten, war das letzte Mal zu ihr gekommen. Er hatte sich mit einem kräftigen Händedruck und dem Versprechen, Ellen eine Ansichtskarte aus Paris zu schicken, von ihr verabschiedet. Sie hatte außerdem zwei neue Patienten gehabt, und sie liebte es, neue Patienten kennenzulernen. Die eine Patientin war eine Frau, die seit vier Jahren an rätselhaften Schmerzen im Bein litt und bereits zahllose Ärzte, Physiotherapeuten und Chiropraktiker aufgesucht hatte, aber keiner hatte ihr helfen können, alle waren mit ihrem Latein am Ende. Die andere hatte ihrem Verlobten versprochen, bis zur Hochzeit das Rauchen aufzugeben. Beide Sitzungen waren gut gelaufen.
Ihre letzte Patientin an diesem Tag würde Ellen vermutlich nicht auf die Liste ihrer erfolgreich therapierten Patienten setzen können. Sie verstand nicht so recht, was Mary-Kate eigentlich von der Hypnotherapie erwartete, aber die Frau weigerte sich, an jemand anderen überwiesen zu werden, und bestand darauf, die Therapie fortzusetzen. Ellen hatte sich für diesen Tag nichts Kompliziertes vorgenommen, sondern machte lediglich einige Entspannungsübungen mit ihr. »Seelenmassage« nannte sie das. Ihre Seele fühle sich genauso an wie vorher, vielen Dank, meinte Mary-Kate danach, aber das war typisch für sie.
Als Mary-Kate gegangen war, hatte Ellen im ganzen Haus geputzt, aber da und dort etwas herumliegen lassen, damit es nicht zu sauber und aufgeräumt aussah, sondern eher so, als wäre
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