Alles bleibt anders (German Edition)
schwarze Oberfläche: weich, aber stabil. Den Knopf zu betätigen, getraute er sich nicht. Jetzt fiel sein Blick auf die Innenseite des Deckels; in schnörkellosen Buchstaben stand dort: 'SG'. Initialen? Seine Initialen? Dann konnte er selbst nicht Frank heißen. Und wenn er Frank war, wer war dann dieser oder diese 'SG'?
In Gedanken versunken lehnte er sich zurück, blickte auf und entdeckte seine Umgebung. Vor ihm ein schmaler Fluss, der langsam und träge durch sein begradigtes Bett glitt, links und rechts des Flusses das gemauerte Ufer, zur Absicherung ein Geländer. Jenseits des Flusses ein großer wuchtiger Bau, dahinter ein rotes, leicht deplatziert wirkendes Gebäude. Eine Kirche? Dazwischen Wiesen, noch nicht so grün und saftig wie im Sommer, aber auf dem besten Wege dorthin. Vor dem wuchtigen Bau eine breite Straße – Linden in der Mitte – die geradewegs auf eine Brücke zulief, die über den schmalen Fluss führte. Auf der Brücke acht Skulpturen aus weißem Marmor, jede aus einer Frau und aus einem Mann bestehend: Krieger und Kriegsgöttin.
Plötzlich ahnte er, was sich hinter ihm, in seinem Rücken befand. Er stand auf, drehte sich um und sah geradewegs auf ein großes imposantes Schloss, altes Gestein, reich verziert, in bestem Zustand. Links daneben der Dom und davor der Lustgarten. All das erkannte er wieder, glaubte er zumindest.
2
Ein Alptraum aus Franks Kindheit: Er kommt mittags mit seinem Schulranzen nach Hause. Es ist der Wohnblock, den er kennt; er ist hier in der Siedlung aufgewachsen; auf dem Straßenschild in schwarz auf weiß: Großbeerenstraße. Doch die Namen auf den Klingelschildern kennt er nicht. Er liest sie alle zum ersten Mal, auch sein eigener Nachname ist nicht darunter. Niemand kennt ihn oder seine Eltern: Wo ist er? Wer ist er?
Für Frank war es gleich einem Déjà-vu, als er nun hier in Kreuzberg vor der Haustür stand. Den weiteren Nachmittag war er durch die Stadt gelaufen, die er meinte zu kennen. Als dieser Fetzen Erinnerung in der Leere seines Gedächtnisses aufgetaucht war, waren seine Schritte zielstrebiger geworden. Er hatte Passanten nach dem Weg gefragt und dabei Antworten geerntet wie: 'Das ist aber noch ein ganz schönes Stück!' oder 'Da wollen Sie zu Fuß hin?'. Der eine oder andere hatte abschätzig seine Kleidung gemustert.
Und so bemühte er sich nun, im nachlassenden Tageslicht, die Namen auf den Schildern zu lesen und wieder zu erkennen. Ersteres gelang ihm.
War er hier zu Hause?
Gehörte einer dieser Namen zu ihm?
Frank Vogt?
Frank Mertens?
»Frank Miller?«
Frank sah nach links oben: Ein dicklicher, älterer Mann blickte von dort durchs geöffnete Fenster aus dem Hochparterre zu ihm hinab. Franks erstaunten, fragenden Gesichtsausdruck nahm der Mann nicht wahr. Er trug ein ärmelloses, weißes Unterhemd und sein glasiger Blick musterte den draußen Stehenden, bis ein erkennendes Grinsen auf seinem pausbäckigen Gesicht erschien.
»Herr Miller! Ja, ist das die Möglichkeit?«
Geistesgegenwärtig blickte Frank rasch zu den Klingelschildern und entdeckte den Namen, der – wenn die Namen logisch angeordnet waren – zu dem Mann gehören musste: »Guten Tag, Herr Nansen!«
»Was treibt Sie denn hierher?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ergänzte er: »Das muss ja mindestens fünf oder sechs Jahre her sein!«
Frank, der nicht wusste, wie ihm geschah, deutete ein Nicken an.
»Wen suchen Sie denn da? Viele gibt's hier nicht mehr, die Sie noch kennen. Die Ernsts und die Globowskis, die müssten damals schon hier gewohnt haben. Die alte Frau Freisler ist letzten Herbst gestorben, da war kaum einer auf der Beerdigung, nur ich, der Pfarrer und zwei alte Damen.«
Die Haustür ging auf und eine Frau, etwa Mitte zwanzig, kam heraus.
»Tach, Frau Mertens! Erinnern Sie sich noch an die Millers? Haben vor Jahren hier im zweiten Stock gewohnt? Nee, die können Sie nicht mehr kennen. Da sind Sie viel zu jung für!«
Ohne ein Wort des Grußes oder der Entgegnung blickte die Frau zuerst zu Frank und dann kurz zu Nansen. Dann eilte sie davon und versuchte, den Mann im Fenster zu ignorieren.
»Die waren in der Wohnung, in der jetzt die Leinewebers sind. Sehr ruhige Mieter waren das, die Millers, das hat auch meine Elisabeth immer gesagt!«
Da war Frau Mertens auch schon um die Hausecke verschwunden und Nansens Blick, der ihr gefolgt war, kehrte zu Frank zurück.
»Na ja, die Leinewebers sind auch ganz umgänglich; sie ist ein bisschen schnippisch, aber er lässt
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