Alles bleibt anders (German Edition)
kurzer Moment der Stille.
Nansen, der erkannte, dass er die bierselige Atmosphäre empfindlich gestört hatte, stand auf. »Erst mal auf den Lokus.«
Nachdem Nansen den Raum verlassen hatte, hörte Frank Schlüsselgeklimper im Flur, danach fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Die zweite Flasche Bier leerte er bis zur Hälfte und stierte dabei auf ein etwa fünfzig Zentimeter breites und dreißig Zentimeter hohes, quaderförmiges Gerät, das ihm gegenüber ins Buffet integriert stand: ein Radio.
Er stand auf, ging hinüber und drehte am linken der beiden fast faustgroßen Einstellknöpfe. Ein kurzes knackendes Geräusch, dann flackerte die längliche Skala zwischen diesem und dem weiter rechts befindlichen Einstellknopf. Aus einem Lautsprecher oberhalb der Skala kam nun ein rauschendes Geräusch, das anschwoll, je weiter er drehte. Er griff an den rechten Knopf und erkannte einen kleinen roten Strich, der die Skala entlang glitt, sobald er den Knopf in die eine oder die andere Richtung bewegte. Das Rauschen wurde weniger und es kristallisierten sich harmonischere Töne aus dem Chaos heraus: ein Klavier, begleitet von einer Geige, ab und an leisteten eine Querflöte und ein Kontrabass ihren Beitrag zur Komposition. Frank wusste genau, was er da tat und welche Instrumente er hörte. Warum und woher er dies wusste, konnte er sich nicht beantworten.
Unbemerkt war Nansen wieder in den Raum getreten.
»Unser Empfänger. Den haben wir uns mal zu Weihnachten geleistet. War unser ganzer Stolz.«
Er stellte die vorsorglich aus dem Flur mitgebrachten neuen Bierflaschen auf den Tisch und ließ sich wieder in seinen Ohrensessel sinken.
»Ach ja, der Schlüssel zum Lokus hängt am Schlüsselbrett gleich neben der Wohnungstür. Der Lokus zu meiner Wohnung ist die halbe Stiege nach oben. Ach«, verbesserte er sich, »das wissen Sie ja noch von früher.«
Keine Rücksicht darauf nehmend, dass sein Gast noch gar nicht ausgetrunken hatte, öffnete er, außer für sich, auch für Frank eine weitere Flasche.
Die sanften Klänge aus dem Radio wurden leiser und ein Paukenschlag eröffnete eine etwas rhythmischere Komposition.
»Meine Mutter haben Sie getroffen, ja?«, kam Frank auf das Thema zurück, das ihn im Moment weitaus mehr interessierte, als das Rentensystem oder die verflossene Frau Nansen.
»Ja, wie gesagt, drüben am Dreifaltigkeitsfriedhof. Ich war vormittags bei Evelyn; da Elisabeth meistens abends geht, die beste Möglichkeit ihr nicht am Grab unserer Tochter zu begegnen. Gibt nur wieder Streit. Davon hatte ich wirklich genug die letzten Jahre. Muss so gegen neun Uhr gewesen sein, ich stehe ja meistens früh auf, und Ihre Mutter sagte, sie wäre jeden Morgen da.«
Nansen gähnte. Es war spät geworden.
Das dritte Bier machte nun auch Frank schwer zu schaffen, es schränkte sein Konzentrationsvermögen ein. Zum einen war er froh und genoss es, dass das Bier seine ohnehin miteinander um Vorrang kämpfenden Gedanken vernebelte und ihm ein Gefühl von trügerischer Geborgenheit gab; zum anderen war da doch die Neugierde: Da saß einer ihm gegenüber, der wusste mehr über sein Leben als er selbst. Wie sollte er nachhaken, ohne sich verdächtig zu machen?
Die Entscheidung war ihm abgenommen, als er bemerkte, dass Nansen, die halbleere Flasche in der einen Hand, selig eingeschlummert war.
Alles Weitere verschob Frank nun auf morgen, wenn er wieder Herr seiner Sinne war. Langsam spürte auch er die Last des vergangenen Tages, die vielen Schritte durch eine ihm weitgehend fremde Stadt, das stakkatoartige Hin und Her in seinem Kopf, den die Sinne benebelnden Umtrunk bei Nansen. Er machte sich lang auf der Couch und steckte ein leicht muffig riechendes Kissen unter seinen Kopf.
Ein Gongschlag aus dem Radio riss ihn noch einmal kurz aus seinen Gedanken. Was die dem lauten Ton folgende Stimme erzählte, nahm er nur noch unterbewusst wahr, dann schlief auch er.
'Guten Abend, liebe Zuhörer. Es ist Sonntag, der 25. Mai 2008, zweiundzwanzig Uhr, wir fahren fort mit den Nachrichten!'
3
Als Frank mitten in der Nacht aus seinem unruhigen Schlaf erwachte, war der Sessel ihm gegenüber leer, das Radio ausgeschaltet. Er wälzte sich hin und her, fror, schloss das Fenster. Später suchte er im Zimmer erfolglos eine Decke und versuchte wieder einzuschlafen.
Draußen begrüßten Vögel zwitschernd den neuen Tag, dessen erste Sonnenstrahlen Nansens Wohnzimmer erreichten. Frank rieb sich die Augen und setzte sich auf. Trotz leichter Kopfschmerzen
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