Alles Gold der Erde
Dich zu sehen. Ich habe mich nach Dir erkundigt, und man hat mir erzählt, daß Du Loren Shields geheiratet hast. Ein guter Bursche, glaube ich. Ich habe ihn bloß einmal gesehen, aber auf alle Fälle verstehe ich, daß Du fertig bist mit mir.
Deshalb habe ich mir gesagt, ich fahre am besten nach Honolulu und störe Dich nicht.
Aber heute abend wollte ich Mr. Chase sprechen. Vielleicht erinnerst Du dich: Bevor wir im vergangen Jahr nach Shiny Gulch zogen, habe ich meinen ersten Goldstaub bei ihm deponiert. Heute abend bin ich zu ihm gegangen, um zu erfahren, zu welcher Stunde er morgen im Laden ist, so daß ich ihn erreichen kann. Aber sein ganzes Haus war erleuchtet, und draußen waren Pferde angebunden. Er hatte Gäste. Ich konnte wegen der Vorhänge nicht in die Zimmer sehen, aber ich konnte die Musik hören. Jemand hatte ein Fenster aufgemacht. Die Musik war gut. Ich wollte nicht aufdringlich sein, aber es schadete ja keinem, wenn ich ein paar Minuten stehenblieb, um zu lauschen.
Dann habe ich es gehört. Sie haben Gitarre gespielt. Sie haben angefangen, dieses Lied zu singen.
Und ich war wieder mit Dir auf jenem Ball im Comet House, wo wir zu dieser Melodie getanzt und uns verliebt haben. Ich habe geglaubt, wenn ich Dich nicht wiedersehen könnte, müßte ich wahnsinnig werden. Ich bin zur nächsten Bar gegangen und habe den Leuten gesagt, ich müsse Loren Shields in Geschäften sprechen. Sie sollten mir seine Adresse mitteilen. Sie haben mir geantwortet, ich könne ihn nicht sprechen, weil er sich zur Zeit gar nicht in der Stadt aufhält.
Kendra, eben habe ich geschrieben, daß ich, als ich von Deiner Heirat mit Loren erfuhr, verstanden habe, daß Du fertig bist mit mir.
Bist Du das wirklich, Kendra? Nach allem, was zwischen uns gewesen ist – kannst Du das einfach so wegwerfen?
Ich warte vor dem Haus. Komm runter und öffne die Tür. Komm runter, Kendra.
Ted.«
32
Kendra stand auf. Sie ging zur Wand und wieder zurück. Mit beiden Händen hielt sie den Brief. Das Papier knisterte. Sie schaute auf den Vorhang, der das Fenster verhüllte. Wenn sie die Lampe löschte, würde das Zimmer fast dunkel sein. Nur das Feuer im Kamin würde noch glimmen. Und das war noch nicht einmal so hell wie der Mondschein. Sie könnte den Vorhang zur Seite schieben und Ted drunten stehen sehen. Ted, der auf sie wartete.
Alles würde ja so einfach sein. Sie mußte bloß die Treppe hinabschleichen und die Haustür öffnen. Wenn sie dabei leise war, würden weder Ralph noch Serena sie hören. Keiner könnte Verdacht schöpfen. Ihr Schlafzimmer lag zur Straße hin, das der Watsons nach hinten, und der Sturm, der immer stärker wurde, mußte jedes Geräusch schlucken. Kein Mensch würde etwas erfahren.
Kein Mensch, dachte Kendra. Kein Mensch außer mir.
Sie blickte auf das Bett mit seiner weichen weißen Steppdecke. So war auch der ganze Raum: weich, anständig, ordentlich. Wie Loren und seine Umarmungen. Nichts in diesem Zimmer erinnerte sie an den rumpelnden Planwagen, in dem sie mit Ted ihre Nächte verbracht hatte. Kein Mensch würde es jemals erfahren, dachte Kendra abermals. Kein Mensch außer mir. Aber würde ich darüber hinwegkommen?
Sie schlang ihre Hände ineinander. Noch immer hatte sie Teds Brief in den Fingern, und er raschelte und knirschte nun. Es war ihr, als vernehme sie ihre eigene Stimme, eine zornige, verächtliche Stimme, die unter einem Baum in Shiny Gulch zornige, verächtliche Worte ausgestoßen hatte:
»Du bist ein Mensch, der alles nur halb macht. Und das kann ich nicht ausstehen. Eine Jacke mit nur einem Ärmel, ein Haus ohne Dach, eine Brücke, die mitten im Fluß endet – wer will mit solchen Dingen etwas zu tun haben? Die Dinge taugen nichts, wenn sie nicht ganz getan werden.«
Das zerknüllte Papier fiel auf den Boden. Sie schlug mit der Faust auf den Kaminsims. Die Kerze flackerte.
Habe ich damals so mit Ted gesprochen? Oder nur mit mir selbst?
Wieder begann sie auf und ab zu gehen. Wieder formten sich ihre Gedanken zu Worten:
Kendra, du bist kein Mensch, der die Dinge nur halb macht. Wenn du etwas in die Hand nimmst, dann machst du deine Sache richtig. So bist du schon immer gewesen. Immer – nur nicht bei Ted. Du liebst Ted, aber du haßt ihn auch. Und was ist mit Loren? Du liebst Loren nicht, aber du haßt ihn auch nicht. Aber du hast Achtung vor ihm.
Sie entsann sich dessen, was Loren ihr kurz vor der Heirat erzählt hatte. Von der ersten Stunde an hatte er sie geliebt, doch
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