Body Farm
1
Es war der 16. Oktober. Die ersten Sonnenstrahlen vor meinem Fenster trieben Rehe langsam zum dunklen Waldrand zurück. In den Wasserleitungen über und unter mir begann es zu rauschen, und in einem Zimmer nach dem anderen ging das Licht an. Von irgendwoher schrillten Signale und zerrissen die dämmrige Stimmung. Ich war mit dem Krachen von Schüssen schlafen gegangen und auch wieder aufgewacht.
In Quantico, Virginia, hört dieser Lärm nie auf. Die Stadt beherbergt die FBI Academy, welche wie eine Insel inmitten von Einheiten der Marines liegt. Jeden Monat verbringe ich mehrere Tage im Sicherheitsbereich dieser Academy. Solange ich es nicht will, kann mich hier niemand erreichen, und es steigt mir auch keiner nach, der im Boardroom, der Kantine, ein paar Bierchen zuviel hatte. Die Zimmer für neue Agenten und beim FBI hospitierende Polizisten sind spartanisch eingerichtet, doch mir stand eine ganze Suite zur Verfügung mit Fernseher, Küche, Telefon und einem Badezimmer, das ich mit niemandem teilen mußte. Rauchen und Alkohol waren nicht erlaubt, aber ich fragte mich, ob die Agenten und Prozeßzeugen, die hier zu ihrem eigenen Schutz isoliert wurden, die Regeln auch nur annähernd so streng befolgten wie ich.
Während das Kaffeewasser heiß wurde, öffnete ich meine Aktentasche und holte einen Ordner heraus, der schon seit meiner Ankunft am Abend zuvor auf mich wartete. Ich hatte noch nicht hineingesehen, weil ich mich vor dem Schlafengehen ungern mit solch einer Sache auseinandersetze. In dieser Beziehung hatte ich mich nämlich verändert. Seit meinem Medizinstudium war ich es gewohnt, mich jederzeit jedem nur erdenklichen Trauma auszusetzen. Ich hatte rund um die Uhr in der Notaufnahme gearbeitet. Ich hatte bis zum frühen Morgen allein im Leichenschauhaus Autopsien durchgeführt. Schlaf war immer wie ein kurzer Ausflug an einen dunklen, leeren Ort gewesen, an den ich mich hinterher kaum mehr erinnerte. Doch im Laufe der Jahre hatte sich in mir eine unangenehme Wandlung vollzogen. Ich bekam Angst vor dem Arbeiten bis spät in die Nacht. Ich hatte immer häufiger Alpträume, in denen schreckliche Bilder aus meinem Leben plötzlich aus den verschiedenen Schichten meines Unterbewußtseins emporschossen. Emily Steiner war elf gewesen. Ihre gerade erwachende Sexualität hatte ihren schmächtigen Körper wie ein erster rosiger Hauch überzogen, als sie vor zwei Wochen, am Sonntag, den 1. Oktober, in ihr Tagebuch schrieb:
Ach, bin ich glücklich! Es ist schon fast ein Uhr morgens, und Mom weiß nicht, daß ich noch in meinem Tagebuch schreibe. Ich liege nämlich im Bett, mit der Taschenlampe unter der Decke. Wir waren zum Gemeinschaftsessen in der Kirche, und Wren war da! Er hat mich bemerkt. Dann hat er mir einen Bonbon, einen Fireball, gegeben! Ich habe ihn eingesteckt, als er wegsah. Er liegt in meiner Geheimschachtel. Heute nachmittag haben wir Jugendgruppe. Er will, daß wir uns davor treffen und daß ich es keinem sagen soll!!!
An diesem Nachmittag verließ Emily um halb vier ihr Elternhaus in Black Mountain und machte sich auf den zwei Meilen langen Weg zur Kirche. Andere Kinder erinnerten sich daran, daß sie sie nach der Gruppenstunde allein hatten weggehen sehen. Das war gegen sechs Uhr abends gewesen, als die Sonne gerade hinter den Hügeln verschwand. Den Gitarrenkasten in der Hand, bog sie von der Hauptstraße ab und nahm eine Abkürzung um einen kleinen See. Nach Ansicht der Polizei begegnete sie auf diesem Weg dem Mann, der sie ein paar Stunden später ums Leben bringen sollte. Vielleicht blieb sie stehen und sprach mit ihm. Vielleicht aber hatte sie es in der hereinbrechenden Dämmerung auch so eilig, nach Hause zu kommen, daß sie ihn gar nicht bemerkte.
In Black Mountain, einer Stadt im Westen von North Carolina mit siebentausend Einwohnern, hatte die örtliche Polizei sehr selten mit Mord oder sexuellem Mißbrauch von Kindern zu tun gehabt und noch niemals mit einem Fall, auf den beides zutraf. Kein Mensch hier hatte sich je über einen Temple Brooks Gault aus Albany, Georgia, Gedanken gemacht, obwohl sein Gesicht überall im Land von den Fahndungsplakaten mit den zehn meistgesuchten Verbrechern herablächelte. Notorische Kriminelle und ihre Verbrechen waren kein Thema, mit dem man sich in dieser malerischen kleinen Welt auseinanderzusetzen hatte, der Welt eines Thomas Wolfe und Billy Graham. Ich begriff nicht, was Gault in diese Gegend gezogen haben könnte oder zu so einem zarten Kind wie
Weitere Kostenlose Bücher