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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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der Treppe rief er mit überschlagender Stimme: »Wo ist meine Hose?« Von oben sah ihn seine Mutter verblüfft an, und es dauerte schrecklich lange, bis er alles erklärt hatte, der Sturz, sein Knie, die Kienspanschachtel. Seine Mutter lachte, die Hose liege noch beim Schneider. Alfred fragte, wo er die Werkstatt finde. »Im Krosigkschen Haus«, antwortete sie, »der Flicken sollte längst fertig sein.«
    Sie gab ihm einen Groschen mit, und er rannte aus dem Haus, er sah den Zeitungsjungen nicht, der an der Ecke stand, fast wäre er in einen Pferdewagen gelaufen, er rannte die Friedrichsgracht hinunter und über die Grünstraßenbrücke,
vor der Destillation rief ihm ein Mann hinterher und hob die Hand, aber Alfred konnte sich nicht damit aufhalten zu entscheiden, ob es ein Gruß war oder ein Fluch – erst als er keuchend die drei Stufen zur Werkstatt hinaufsprang, hatte er die Gewissheit, einen Teil der verlorenen Zeit wieder gut gemacht zu haben.
    Der Schneider war ein älterer Herr. Er war glatt rasiert, aber man hätte sich gewünscht, dass ein gnädiger Bart sein pockennarbiges Gesicht bedeckte. Auf Alfreds hervorgestoßene Frage strich er sich mit einer Hand über die verschorften Wangen, stach dann die Nadel in den schwarzen Anzugstoff, über dem er saß, erhob sich ächzend und verschwand hinter einem Vorhang zum Nebenraum. Alfred lehnte sich an eine Rolle Leinwand und versuchte zu Atem zu kommen. Überall in der Werkstatt lagen Stoffreste herum, zerknitterte Schnittmusterbögen, Maßbänder und Garn in allen Farben. Auf einmal musste Alfred husten, immer heftiger, und konnte nicht mehr aufhören damit, er hob die Arme, um zu Luft zu kommen, und erst als der Schneider mit der sorgsam gefalteten Hose hinter seinem Tuch hervortrat, wurde es besser, auch wenn ihm die Augen noch tränten. Der alte Mann wollte ihm die Stelle zeigen, die er ausgebessert hatte, aber Alfred hielt ihm nur den Groschen hin, bekam die Hose eingeschlagen und verschwand ohne ein Wort des Grußes aus dem Geschäft.
    Auf dem Rückweg trödelte er, ging langsam die Wallstraße zurück, sah auf der Kreuzung einem Kind zu, das seinen Kreisel vor sich hertrieb, und hielt erst auf der Böschung zum Spreekanal an. Dort legte er sein Bündel auf den Boden, löste die Kordel und schlug das Packpapier auf. Behutsam öffnete er den Knopf der Hosentasche, griff
hinein, und wirklich war die Schachtel noch dort. Alfred nahm sie in die Hand und setzte sich hinunter ans Wasser. Was erwartete ihn im Inneren der Schachtel? Und ließ sich daran jetzt noch etwas ändern, durch einen Wunsch, ein Gebet? Er fragte sich, ob es half, das Kästchen einfach nicht zu öffnen, um die Gewissheit ihres Todes hinauszuzögern. Am Ende war sich Alfred nicht einmal sicher, ob es die Raupe überhaupt gegeben hatte, bevor er neben ihr in den Brennnesseln gelandet war.
    Dann holte er Luft und schob die Schachtel auf. Ein ganzes Nest zerfallener Blätter war darin, Krümel, trockene, farblose Bröckchen, zwischen denen sich seltsame Fäden spannten, aber keine Raupe. Dafür fand er eine pergamentene Hülle, aufgerissen und leer – als er sie heraushob, sah er, dass sie durchsichtig war, der hohle Kokon. Mit den Fingern schob er die Blätter zur Seite und entdeckte, dass sich dort in der Ecke der Schachtel etwas bewegte.
    Es war ein Schmetterling, oder vielleicht war es auch nur der Geist eines Schmetterlings. Grau, verkümmert, die Fühler standen geknickt zur Seite ab, ein Flügel war gebrochen. Alfred fasste das Wesen an einem Bein und hob es auf seine offene Handfläche. Der Schmetterling machte eine Bewegung, die ein Flattern hätte werden können, wenn ihm zur Verfügung gestanden hätte, was dazu nötig war: gesunde Flügel und Kraft. Vielleicht war es auch gar kein Zucken des Schmetterlings selber, sondern nur noch ein Reflex seines kleinen, zerstörten Leibes. Alfred fühlte sich jämmerlicher als jemals zuvor. Er pflückte einen Grashalm und hielt ihn dem Tier hin, aber der Schmetterling reagierte nicht darauf. Als Alfred aufstand und sich die zusammengelegte Hose unter den Arm klemmte, kippte
der Schmetterling um und blieb so liegen. Alfred deckte ihn mit der anderen Hand zu. Die leere Schachtel ließ er auf den Steinen zurück.
    Er trug ihn in den Händen vor sich her wie eine Monstranz. Zu Hause angekommen, hatte sich das Tier noch immer nicht bewegt. Alfred glaubte nicht mehr daran, dass es noch am Leben war. Er überlegte, es in die Brennnesseln zu setzen, für

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