Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
Vom Netzwerk:
den Fall, dass es sich noch einmal erholen würde. Aber dann würde er jeden Tag daran vorbeigehen müssen. Also stieg er die Stufen zum Kanal hinunter und setzte den Schmetterling aufs Wasser. Das Tier legte sich zur Seite, einer seiner Flügel stand abgespreizt in die Höhe, ein Luftzug fuhr hinein und trieb ihn vor sich her, hinaus auf den Kanal.
     
    Am selben Tag noch lief Alfred hinüber in den Lustgarten hinter dem Schloss. Er strich die Wege des äußeren Ringes entlang, immer auf und ab, unter den Bäumen, den Blick fest zu Boden gerichtet. Mehrmals kam eine Dame vorbei, die einen Kinderwagen schob, irgendwann blieb sie bei ihm stehen und fragte, ob er auf Kastanien aus sei. Die gebe es hier nämlich nicht. Er wollte es erklären, aber der Säugling begann zu schreien, und sie zog weiter. Ein älterer Herr erkundigte sich, was er verloren habe, und bot an, bei der Suche behilflich zu sein. Als er hörte, was Alfred hier wollte, lachte er ihn aus: »Die kann man nicht suchen, die findet man nur.«
    Er behielt recht. Erst eine gute Woche später wurde Alfred fündig, auf dem Rückweg von der Kirche. Die Raupe saß auf einem Löwenzahn im Rinnstein und war kleiner als die erste. Grün, mit einem dichten Pelz, er nahm sie
auf den Finger und bat Tony, die Augen zu schließen, dann strich er ihr damit übers Gesicht. Seine Schwester kiekste auf, was die anderen Geschwister herbeilockte. Als sie sahen, was es gab, hielten ihm alle ihre Wangen hin, und Alfred musste mit dem Tier von einem zum anderen laufen, bis sich auch der Letzte von den Härchen hatte streicheln lassen. Tony wünschte sich eine Halskette aus Raupen, und Kurt entwarf gleich einen Plan – man müsste ihr einfach einen dicken Halm vom Lieblingsgras der Raupen umbinden und die Tiere daraufsetzen. Alfred stellte sich vor, wie sich das pelzige grüne Band um den Nacken seiner Schwester wand, unmerklich vorwärtskriechend.
    Zu Hause legte er das Tier in ein altes Einmachglas, das er auf den Nachttisch neben sein Bett stellte. Morgens beim Erwachen galt ihm sein erster Blick und abends nach dem Nachtgebet der letzte. Die Raupe nahm rasch zu, manchmal fand Alfred das Glas voll mit neuen Gaben: Gräser, Blüten, eine Stachelbeere, sogar Brotkrumen und Wurstscheiben fanden sich darin, die eines seiner Geschwister hineingelegt hatte.
    Als Alfred am siebten Tag erwachte, war die Raupe fort. Er hatte das Glas mit einem durchlöcherten Pergamentpapier verschlossen – als er nachsah, hing darunter ein kleiner Kokon, sie hatte sich verpuppt. Am oberen Ende sah der pelzige Rest des Raupenschwanzes heraus, bereits am Abend war er abgefallen.
    Jeden Morgen kamen nun die anderen Kinder und wollten die Puppe berühren. Alfred hatte alle Hände voll damit zu tun, sein Findelkind zu beschützen. Unterdessen hatte er sich angewöhnt, das Einmachglas stets bei sich zu tragen, und so stand es morgens an seinem Frühstücksplatz und
begleitete ihn den ganzen Tag. Wenn am Nachmittag die anderen Kinder spielten, saß Alfred daneben, das Glas im Schoß, das er stolz betrachtete.
    Nach einer weiteren Woche bemerkte Alfred morgens, dass die Puppe anders aussah als bisher, durchscheinender, fast meinte man, hinter der weißen Haut Muster zu erkennen. Alfred beschloss, im Bett zu bleiben, und täuschte Leibschmerzen vor. Die Mutter wunderte sich, aber als Alfred das Gesicht vor Krämpfen verzog, brachte sie ihm die schwere Wärmflasche, wickelte ihn in seine Decke und schloss leise die Tür.
    Es dauerte schrecklich lange. Unverändert hing die Puppe am Deckel und sah zum Platzen gespannt aus. Alfred versuchte die Hülle durch die Kraft seines Willens zum Bersten zu bringen. Er starrte auf den kleinen, hellen Beutel, hielt die Luft an und presste, als müsste er den Schmetterling selber zur Welt bringen. Ein paarmal langte Alfred hinüber und stieß gegen das Glas, falls dem Tier der letzte Anstoß zur Bewegung fehlte. Aber nichts geschah. Es war nicht einmal zu erkennen, wo beim Schmetterling oben und unten war.
    Einen Moment lang erwog er, das Tier einfach selbst von seiner Hülle zu befreien, aber Heinrich hatte ihn gewarnt, dass ein Schmetterling ohne die Ertüchtigung seiner Geburt nicht lebensfähig sei. Immer wieder fielen Alfred die Lider zu, und er musste sich die müden Augen reiben. Inzwischen hatte er tatsächlich Bauchschmerzen, vor Hunger. Außerdem musste er wirklich dringend aufs Klo.
    Erst als der weiße Fleck sich auf einmal bewegte, schreckte Alfred aus seinen

Weitere Kostenlose Bücher