Alles Land - Roman
davon.
Eichhörnchen wartete hinter der letzten Bankreihe. Sie sah noch mehr nach einem Nagetier aus als in der Woche zuvor, die spitze Nase, die seitlich stehenden Augen, der kleine Mund. Wie blass sie war. Ihre Stoppelhaare standen ein wenig nach oben, sie hatte sich nicht gekämmt. Alfred hatte noch nie ein Mädchen mit kurzen Haaren gesehen.
Sie hockten auf dem Steinfußboden und sahen sich an, die Hände vorm Mund, um nicht loslachen zu müssen, Alfred aber auch, weil er hinter dem Schutz seiner Finger noch rasch das Ende des Vaterunsers mitsprach. Erlöse uns von dem Übel . Zum ersten Mal verhaspelte er sich dabei. Eichhörnchen fragte ihn, ob sein Vater zu Hause auch im Talar herumlaufe, und Alfred erzählte von dem Sonntag, als sämtliche Beffchen dreckig gewesen waren.
»Beffchen?«
»Die weißen Halsbinden über dem Talar«, erklärte Alfred. »Meine Mutter hat einfach eine Serviette aus der Kommode genommen, sie gefaltet und ihm um den Hals gelegt. Es ist keinem aufgefallen.«
Eichhörnchen nahm seine Hand in ihre, sie wollte ihm die Zukunft daraus lesen. Mit dem Daumen strich
sie auf seiner Handfläche herum, bis zwischen die Finger. Es kitzelte, und Alfred war unsicher, ob es sich bei dem, was sie hier taten, nicht um Aberglauben handelte. Er zog die Hand zurück, und Eichhörnchen sagte, er sei ohnehin noch zu jung, man könne die Furchen gar nicht richtig erkennen.
Sie mussten die ganze Zeit flüstern. Von oben kam Vaters Predigtstimme: Denn alles Land, das du siehst, will ich dir geben und deinem Samen ewiglich . Wenn Eichhörnchen etwas sagte, beugte sie sich vor und kam mit dem Mund dicht an Alfreds Ohr. Dann saß sie wieder da und sah ihn an, mit geducktem Kopf. Was sie am meisten von einem Eichhörnchen unterschied, war ihre Haut, die schöner war als alles, was Alfred in seinem Leben gesehen hatte. Der Vater sprach inzwischen über Matthäus 4. Gerade als er erzählte, wie Jesus von dem hohen Berg aus alle Reiche der ganzen Welt in einem Augenblick gezeigt bekam, streckte Eichhörnchen die Hand nach Alfred aus und griff ihm ins Gesicht. Alfred schrak zurück. Sie lachte stumm, legte den Finger auf die Lippen und winkte ihn heran. Er habe da etwas auf der Wange. Vorsichtig fasste sie hinüber und zeigte ihm, was es war.
»Eine Wimper. Du darfst dir etwas wünschen.« Sie machte eine Pause. »Mir kannst du den Wunsch natürlich verraten.« Sie hielt ihm den Finger mit der schwarzen Wimper vors Gesicht und pustete sie selber weg. Dann sah sie von unten her zu ihm hoch.
Alfred schwieg. Er wusste, dass man starb, wenn man alle Wimpern verloren hatte. Seine Mutter hatte es ihm verraten, als ihr eine ausgefallen war, und dabei gelacht. Alfred überlegte, es Eichhörnchen zu sagen, aber er wusste
nicht, ob sie sich dazu schon gut genug kannten. Also lächelte er, so gut es ging. Manchmal war es besser zu schweigen.
Zum Abendmahl waren sie zurück auf ihren Plätzen.
Am Abend im Bett ärgerte er sich, dass er seine Schneekugel schon verschenkt hatte. Er überlegte, was er Eichhörnchen stattdessen geben könnte, aber es erschien ihm alles nicht wertvoll genug.
Am nächsten Sonntag fehlte Eichhörnchen in der Kirche. Alfred überwand sich, ihre Mutter zu fragen, und erfuhr, dass das Fräulein Tochter krank sei, aber nicht, woran sie litt. Das Rüstgebet absolvierte er unaufmerksam und lustlos und war erst bei der stillen Fürbitte wieder bei der Sache. Den ganzen Heimweg über erläuterte Kurt ihm einen Gottesbeweis, den er während der Predigt entworfen hatte. Immer begeisterter redete er sich hinein: Aus Glauben sei Wissen geworden, die Argumentation nicht nur logisch, sondern unfehlbar, ein Irrtum ausgeschlossen. Alfred folgte den Gedankengängen nicht mit ganzer Kraft.
Nachts lag er zwischen seinen atmenden Geschwistern, unter der dunklen Glocke ihres Schlafs, und sagte sich die Krankheiten auf, die er kannte. Husten, Grind, Tuberkulose, Warzen. Nach einigem Nachdenken ergänzte er: Auswurf, Durchfall, Zahnweh. Was könnte es sonst noch sein? Tobsucht? Er war zu sehr in Sorge, um es auf mehr als ein Dutzend Erkrankungen zu bringen. Und sie war so blass gewesen. Sobald er die Augen schloss, sah er
dicht vor sich ihr weißes Gesicht. War sie womöglich ein Schneeeichhörnchen? Als die Glocke der Klosterkirche Mitternacht schlug, warf er die Decke zurück und schlich sich auf nackten Füßen hinunter in die Stube. In der Kommode standen hinter den Serviettenringen die beiden Bände der
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