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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Gedanken hoch. Die Puppe war noch immer verschlossen, aber sie schaukelte nun hin
und her. Alfred wollte eben schreien, da riss die Hülle am unteren Ende auf.
    Ein Wesen streckte sich heraus, ein Kopf mit riesigen Augen, ein Rüssel, der sich zu einer Spirale aufrollte, schon folgte der zusammengedrückte Leib, in einer einzigen zusammenhängenden Bewegung schob sich das Tier hervor und glitt aus seiner Schale. Die Falten öffneten sich und ließen die spitzen Gelenke der Beinchen herausstechen, mit denen der Schmetterling sich an der Hülle festhielt, die nun blass und verbraucht in der Luft hing, und dann öffnete er seine Flügel, weiß wie zwei kleine, brüchige Segel, sehr allmählich spannte er sie auf und blieb dann so hängen, reglos, als sei getan, was zu tun gewesen war, und erst nach einer langen Weile wagte Alfred wieder zu atmen.
     
    Den Schmetterling behielt er zunächst in seinem Einmachglas. Er zeigte ihn den Geschwistern, als sie nach Hause kamen, er zeigte ihn seiner Mutter, dem Vater und immer wieder betrachtete er ihn selbst. Er fertigte Dutzende von Zeichnungen an, auch von dem Moment des Schlüpfens, aus der Erinnerung, aber keine von ihnen kam an die Schönheit des tatsächlichen Vorgangs heran. Alfred legte Blüten ins Glas, die er mit Zuckerwasser bestrich, und wirklich landete das Tier darauf und leckte an den Blütenblättern. Am dritten Abend fragte ihn die Mutter, wie lange er den Schmetterling noch behalten wolle, und auch Heinrich mahnte, es sei allmählich an der Zeit, ihn freizulassen. In der Nacht sah Alfred hinüber zu dem weißen Fleck, der am Rande des Glases saß und hinauszuwollen schien. Wenn Alfred die Augen schloss, sah er ihn vor sich, wie er zum ersten Mal im Einmachglas geflattert war, wie
er dann auf dem Boden gehockt und immer wieder ganz langsam die Flügel geöffnet und geschlossen hatte. Alfred sah all die Bilder, die er behalten wollte, bei sich bewahren wie einen Schatz, und als es am Morgen dämmerte, schlich er hinunter ins Wohnzimmer zum Nähzeug seiner Mutter und leise die Stufen wieder hinauf, vorsichtig öffnete er das Glas, griff hinein und stach mit einer Stecknadel behutsam durch den schmalen Körper des Schmetterlings. Er heftete ihn an die Wand über seinem Bett. Nach einer Weile hörte das Tier auf zu zappeln.

    Dann saß er wieder am Kanal, mit baumelnden Beinen, im Wasser schaukelte die Spiegelschrift der Kompass-Werke vor dem dunkler werdenden Himmel. Alfred wünschte sich, eine Spur zu hinterlassen. Jeden Abend schloss sich der Tag über ihm wie Wasser über einem hineingeworfenen Stein. Und so viele Steine er mit den Jahren auch ins Unterwasser warf, niemals stieg der Wasserspiegel auch nur um einen Fingerbreit.

Über den Ursprung der Tromben
    Im Gottesdienst lernte Alfred ein Mädchen kennen. Sie war ihm aufgefallen, weil sie beim Beten die gefalteten Hände an die Lippen hielt. Am Ausgang der Kirche verabredeten sie sich fürs nächste Mal. In dieser Woche freute er sich anders als sonst darauf, dass es wieder Sonntag wurde. Er hatte vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen, also nannte er sie, wenn er an sie dachte, heimlich Eichhörnchen. Sie sah ein wenig so aus.
    Es wurde eine endlose Woche, vor allem der Sonnabend zog sich über jedes Maß in die Länge. Nach dem Mittagessen verschwand Alfred ganz allein in der noch warmen Waschstube und malte, auf dem Boden liegend, mit einem Kohlestift in sein Oktavheft. Anfangs waren es Muster, die er kritzelte, dann zog er einfach nur eine möglichst gerade Linie über die Seite, vom linken Rand bis über den Mittelfalz, wo der Strich ein wenig holperte, und hinüber an die rechte Kante. Er gab sich Mühe, nicht über den Rand des Heftes hinauszuzeichnen, um keine Flecken auf dem Fußboden zu machen, aber es gelang nicht immer. Wenn er mit einem Blatt fertig war, blätterte er um und zog die Linie auf der Rückseite weiter, quer durchs ganze Heft, er stellte sich vor, es sei ein langer Weg, an dessen Ende er Eichhörnchen wiedersehen würde.

    Am Sonntagmorgen zog die Familie des Predigers Wegener wie gewohnt in Zweierreihen in die Kirche ein, in gleicher Aufstellung wie bei ihren Schulausflügen. Als das Orgelvorspiel endete, hatten die Letzten gerade die Vorhalle betreten. Alfred nahm in der ersten Reihe Platz. An diesem Sonntag aber setzte er sich nicht neben seine Mutter, sondern drückte sich gleich an den äußeren Rand der Kirchenbank. Schon zu Beginn des Vaterunsers stahl er sich

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